papierlose Arbeit

Wieso papierlos? Gründe, die für (und gegen) das papierlose Arbeiten sprechen

Von Romy Graske

Waren Sie schon einmal gezwungen, mit einer digitalen Kanzleiakte zu arbeiten, die bei Ihnen schwere Augenschmerzen verursacht hat? Viele kryptisch beschriftete Ordner, in denen sich Unterlagen doppelten und eine Vielzahl von Entwürfen verschiedener Bearbeiter herumschwirrten? Oder schlimmer noch: Sie haben in einem digitalen Dokumentenmanagementsystem stundenlang einen Schriftsatz bearbeitet, diesen „eingecheckt“ und am Ende wurde Ihre Ausarbeitung nicht gespeichert?

Ich bin mir sicher, Sie haben diese Erfahrung schon gemacht. Wir alle. Es sind die Momente, in denen wir „diese Technik“ verfluchen und feststellen: Mit einer Papierakte wäre mir das nicht passiert. Besonders Leidgeplagte gehen sogar so weit zu sagen, die Einführung einer digitalen Akte habe ihnen keinerlei Zeitersparnis gebracht, im Gegenteil: Sie führe zu Chaos.

„Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis größer als in der Theorie.“
Ernst Ferstl

So ist es auch mit der papierlosen Arbeit in Rechtsanwaltskanzleien. Die simplen Werbeversprechen „smart“, „maximale Effizienz“, „zeitsparend“ sind eben nur das: simple Versprechen.

Schauen wir uns also einmal im Detail an, was ernsthaft für und was gegen das papierlose Arbeiten in Kanzleien spricht. Erlauben Sie mir, mit den „schlechten Nachrichten“ zu beginnen:

IT-Wartung – eine Never-Ending Story

Das papierlose Arbeiten in einer Kanzlei bedeutet im Kern, dass die Akten digital geführt werden. Hierfür gibt es mittlerweile verschiedene Anbieter auf dem Markt, mit unterschiedlichen technischen Lösungen. Die Herausforderung besteht darin, bei Einführung der Lösung vorauszusehen, wie hoch der Implementierungs-, Wartungs- und damit Kostenaufwand sein wird.

Während Großkanzleien über eigene IT-Abteilungen und damit entsprechende technische Expertise im Hause verfügen, sind gerade kleine und mittelständische Kanzleien zusätzlich auf externe IT-Beratungen angewiesen. Denn regelmäßige Softwareupdates, IT-Sicherheitsmaßnahmen, Datenschutzanforderungen oder mögliche Datenpannen erfordern ein sehr gutes Verständnis davon, wie die eingesetzte Software überhaupt funktioniert. Ganz zu schweigen von den Schnittstellen für das beA. Was eine Kanzlei zunächst an Papier einspart, zahlt sie ohne Weiteres später an IT-Kosten.

„Ich kann nur Ausgedrucktes lesen.“

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor ist die Bereitschaft und damit Akzeptanz der Mitarbeitenden, überhaupt papierlos arbeiten zu wollen. Ein Großteil der Anwaltstätigkeit besteht darin, Schriftsätze, Urteile, Aufsätze und Kommentare zu lesen. Wie geht es Ihnen: Lesen Sie einen 20- bis 30-seitigen Schriftsatz lieber ausgedruckt oder digital als PDF-Datei auf Ihrem Bildschirm? Genau darin liegt das Problem: Je nach Vorliebe schaffen sich Mitarbeitende – trotz digitaler Akte – ihr eigenes ausgedrucktes Aktensystem, weil sie lieber Ausgedrucktes lesen als digital am Bildschirm.

Die Digitalisierungsfalle – Mit der papierlosen Kanzlei kommt der maximale Erfolg?

Immer wenn von „Digitalisierung“ die Rede ist, wird schnell der Eindruck erweckt: Wer nicht digitalisiert, wird abgehängt. Das führt dazu, dass auch Kanzleien sich dazu genötigt fühlen, eine Digitalisierungsstrategie zum „Must-have“ ihrer Existenz zu erklären.

Doch spätestens, wenn die ersten Maßnahmen des Digitalisierungsprojekts umgesetzt werden, macht sich Ernüchterung breit – und das hat einen ganz einfachen Grund: Digitalisierung ist eben nicht der ausschlaggebende Faktor für Unternehmenserfolg.

Im Gegenteil: Der international renommierte Managementexperte Jim Collins interviewte zahlreiche Führungskräfte sog. „Spitzenunternehmen“ und musste dabei überraschenderweise feststellen, dass 80 Prozent der befragten Führungskräfte Technologie nicht einmal als einen der fünf wichtigsten Faktoren für den außergewöhnlichen Erfolg ihres Unternehmens benannten. In seinem Buch „Der Weg zu den Besten“ untersuchte Jim Collins in einer äußerst aufwendigen Studie über fünf Jahre hinweg, wie aus einem guten Unternehmen ein Spitzenunternehmen wird. Er kam zu dem Ergebnis, dass Technologie allein eben nicht der Schlüssel zum Erfolg ist. Sie könne als Beschleunigungsfaktor für den Unternehmenserfolg dienen, aber nur, wenn sie gezielt und sinnvoll eingesetzt werde und das Unternehmen eine glasklare Vorstellung davon habe, wo und warum es diese Technik dort einsetzt.

Kommen wir deshalb nun zu den Gründen, warum es sinnvoll sein kann, papierlos in der Kanzlei zu arbeiten. Mit anderen Worten: Welches Ziel möchten Sie mit einer papierlosen Kanzlei erreichen?

Mitarbeiterbindung und ein weltweiter Bewerberpool

Vor Ausbruch der Corona-Pandemie erntete man als Kanzlei nur unglaubwürdige Blicke, wenn man davon sprach, dass ein Großteil der Mitarbeitenden aus dem Homeoffice arbeite. Diese Situation beschrieb ich in meinem Blogbeitrag vor rund zwei Jahren während des ersten Corona-Lockdowns. Heute kommen Arbeitgeber plötzlich in Erklärungsnot, wenn sie kein Homeoffice anbieten.

Eine papierlose Kanzlei ermöglicht es dem gesamten Kanzleiteam, von jedem Ort der Welt aus zu arbeiten. Vom Sekretariat bis zum Anwalt bzw. den Anwältinnen. In meiner Beratungspraxis sind mir bereits Digitalunternehmen begegnet, die nicht einmal mehr über ein Büro verfügen. Ihre Mitarbeitenden sitzen über die ganze Welt verstreut, teils als Angestellte, teils als Freelancer. Hochqualifizierte Fachkräfte, die beispielsweise das Landleben der Großstadt vorziehen, können so in der Kanzlei gehalten werden. Nicht mehr der Wohn- und Arbeitsort entscheidet über die Wahl einer Kanzlei, sondern alleine das Interesse und die fachliche Qualifikation.

Auch Ihr Bewerberpool ist damit nicht mehr nur auf Ihre Stadt beschränkt, sondern Sie können sich genau die Experten und Expertinnen holen, die Sie brauchen – egal wo sie leben. Die damit einhergehende Flexibilität werden gerade die jüngeren Fachkräfte sehr zu schätzen wissen – und macht Sie zu einem überdurchschnittlich attraktiven Arbeitgeber.

Arbeit digital delegieren in Deutschland – oder sogar weltweit

Der Fachkräftemangel ist unter Rechtsanwaltsfachangestellten besonders hoch. Mittlerweile gibt es aber immer mehr selbstständige ReFas, die ihre Arbeitsleistung als digitalen Büroservice anbieten. Eine papierlose Kanzlei ermöglicht es Ihnen, kurzfristig Mehrarbeit an selbständige ReFas abzugeben, indem Sie diesen einfach einen digitalen Zugang zu Ihrer Anwaltssoftware erteilen. Kurzfristiger Personalausfall kann so aufgefangen werden, vorausgesetzt Sie führen Ihre digitalen Akten übersichtlich.

Die papierlose Kanzlei – Ihre interne Datenbank und Vorstufe der Automatisierung

Wenn Sie alle Inhalte Ihrer Kanzlei digital zur Verfügung haben und vor allem sauber pflegen, ermöglicht Ihnen das eine umfangreiche Auswertung Ihrer Daten. Zum Beispiel:

  • Die Auswertung der Wirtschaftlichkeit einzelner Mandate.
  • Fachliteratur und sich wiederholende Themen können zu einer internen Wissenssammlung zusammengetragen werden, damit alle Mitarbeitenden Zugriff auf das gesamte Wissen der Kanzlei haben. Das spart wertvolle Recherchezeit.
  • Musterschriftsätze erhöhen die Schnelligkeit bei der Erstellung von Schriftsätzen und damit die Wirtschaftlichkeit, aber auch die Qualität bei sich wiederholenden Mandaten. Gerade das Geschäftsmodell von Legal Tech-Start-ups basiert exakt auf diesem Modell: Maximale Systematisierung, Strukturierung und die Musterung von gleich gelagerten Fällen (vor allem im Verbraucherrecht). Das führt dazu, dass diese Start-ups eine enorme Masse an Mandaten pro Monat abwickeln können, weil jeder Schritt bis ins kleinste Detail gemustert wird – die Vorstufe der Automatisierung.

Fazit – Was will ich mit meiner papierlosen Arbeit erreichen?

Natürlich gibt es eine Reihe von weiteren Gründen, die die Umstellung auf das papierlose Arbeiten rechtfertigen: Weniger Mitarbeitende im Büro bedeutet: kleinere Kanzleiräume und somit weniger Miete. Geld, das sich sinnvoller investieren lässt, z. B. in Fachliteratur, die Fortbildung der Mitarbeitenden und die Online-Akquise über Kanzlei-Blogs und Videobeiträge.

Seit Januar 2022 sind Sie aufgrund der aktiven Nutzungspflicht des beA ohnehin verpflichtet, Schriftsätze digital zu empfangen und zu versenden. Für sich genommen ist das zwar kein Grund, die ganze Kanzlei nun auf papierlos umzukrempeln. Aber es ist doch ein guter Anlass, sich die Frage zu stellen: Was will ich mit meiner papierlosen Kanzlei erreichen? Möchte ich meinen Mitarbeitenden mehr Flexibilität hinsichtlich ihres Arbeitsortes ermöglichen? Möchten wir als Wirtschaftsunternehmen die Kanzlei datengesteuert führen und alles an Daten auswerten, um die maximale Effizienz zu erreichen? Oder wollen Sie bei der nächsten Pandemie oder auch nur Grippewelle nicht wieder riskieren, dass alle Ihre Mitarbeitenden ins Büro kommen müssen, was zu einem erhöhten Krankenstand führen kann?

Eines ist sicher: Die Digitalisierung der eigenen Kanzlei nur um der Digitalisierung willen ist zum Scheitern verurteilt. Vielleicht aber hat Ihnen dieser Beitrag einen für Ihre Kanzlei relevanten Mehrwert aufgezeigt, der für Sie die Umstellung auf die papierlose Arbeit rechtfertigt.

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Die papierlose Kanzlei

Foto: Adobe Stock/©siraanamwong
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Romy Graske ist als Syndikusrechtsanwältin für ein Software-as-a-Service-Unternehmen tätig. Zudem berät sie als selbstständige Rechtsanwältin Expats, Freiberufler, Künstler aber auch Digitalunternehmen zum grenzüberschreitenden mobilen Arbeiten. In ihren Blogs berichtet sie über aktuelle Themen u. a. zu Rechtsfragen beim grenzüberschreitenden mobilen Arbeiten unter https://romygraske.de

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