Die Digitalisierung des Zivilprozesses und die Zunahme von Massenverfahren verlangen auf Seiten der Justiz den Einsatz moderner Softwarelösungen. Anhand eines Pilotprojekts in der bayrischen Justiz wird der Frage nachgegangen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz von Assistenzsystemen gelten, die das Gericht bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Plädiert wird für einen pragmatischen Ansatz, der es der Justiz ermöglicht, in der IT-Beschaffung flexibel zu agieren und zügig auf moderne Produkte zurückzugreifen.
I. Einleitung
In der Anwaltschaft und bei Inkassodienstleistern ist der Einsatz von Legal Tech-Produkten bereits so weit verbreitet, dass der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt“ schon regulierend eingreifen musste.[1]
Für die Justiz ist es mit Blick auf die stets geforderte Beschleunigung der Verfahren ebenfalls lohnend, die Entwicklung in diesem Bereich zu beobachten und verfügbare neue Techniken anzuschaffen und zu testen. Die Politik ist hier in der Pflicht, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. Der Koalitionsvertrag verspricht einen „Digitalpakt für die Justiz“ und fordert ausdrücklich, dass Gerichtsverfahren schneller und effizienter werden sollen.[2]
In der Richterschaft besteht jedenfalls großes Interesse an modernen Hilfsmitteln, was zuletzt der durch die Corona-Pandemie erzwungene rasante Umstieg vieler Gerichte auf Videoverhandlungen gezeigt hat.[3] Eine Umfrage der Deutschen Richterzeitung ergab, dass im Jahr 2021 ca. 50.000 Videoverhandlungen durchgeführt wurden, mit steigender Tendenz.[4]
Legal Tech-Produkte, die automatisiert Aufgaben für Juristen übernehmen, können unterschieden werden in Expertensysteme und in Anwendungen, die auf einer „Künstlichen Intelligenz“ (KI) basieren. Bei Expertensystemen wird durch die menschlichen Programmierer Schritt für Schritt vorgegeben, welche Ergebnisse die Software bei bestimmten Eingaben ausgibt.[5] Anwendungen mit einer KI basieren hingegen meist auf maschinellem Lernen, das bedeutet, dass die Software sich selbstständig aus eigenen gesammelten Erfahrungen weiterentwickelt.[6]
Die Softwarelösungen, die bislang in der Justiz im Einsatz sind, können dem Bereich der Expertensysteme zugeordnet werden. Als Beispiel wären hier Programme zur Unterhaltsberechnung in Familiensachen zu nennen. Angesichts der Herausforderungen, vor denen die Justiz mit den aktuellen Entwicklungen im Zivilprozess steht, sollten auch modernere, lernfähige Systeme getestet werden.
II. Herausforderungen durch die Digitalisierung des Zivilprozesses und durch Massenverfahren
Seit Beginn dieses Jahres ist in Zivilsachen der elektronische Rechtsverkehr gem. § 130d ZPO für Anwälte und Behörden zwingend vorgeschrieben. Bis 2026 sind die Gerichte zudem gem. § 296a Abs. 1a ZPO verpflichtet, die Prozessakte elektronisch zu führen. In Bayern wird die elektronische Akte bereits seit 2016 getestet und ist mittlerweile an verschiedenen Zivilgerichten im Einsatz.[7] Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, auch im Justizbereich auf softwarebasierte Lösungen zur Unterstützung der richterlichen Tätigkeit zurückzugreifen. Der vermehrte Einsatz solcher Programme erscheint vor allem aus drei Gründen dringend notwendig:
Erstens nimmt der Umfang der Schriftsätze und Akten selbst am Amtsgericht kontinuierlich zu. Das liegt zum einen daran, dass vermehrt Massenverfahren anhängig gemacht werden.[8] Zum anderen fällt es den Parteien durch die elektronische Übermittlung leichter, große Dokumente mit vielen Anlagen zu übersenden.
Zweitens führt die Umstellung auf die elektronische Akte zu einer grundlegenden Umstellung der Arbeitsweise in der Justiz, was vielen Beschäftigen Sorgen bereitet.[9] Diesem Akzeptanzproblem sollte durch ein breites Angebot verschiedener Tools zum Umgang mit der elektronischen Akte begegnet werden, damit den Mitarbeitern Wahlmöglichkeiten bezüglich ihrer bevorzugten Arbeitsweise verbleiben.
Drittens besteht ein Wunsch nach beschleunigten Verfahren. Die Umstellung auf den elektronischen Rechtsverkehr führt bei den Verfahrensbeteiligten zu der Erwartungshaltung, dass die Verfahren nun schneller bearbeitet werden, weil die Zeit für den Postversand wegfällt. Erfahrungsberichte aus der Justiz zur Einführung der elektronischen Akte schildern hingegen häufig Zeitverluste gegenüber der herkömmlichen, analogen Arbeitsweise.[10] Das mag zunächst verwundern, steht aber im Einklang mit den bisherigen Praxiserfahrungen bei Digitalisierungsprojekten in der Justiz. Der Grund dafür sind unter anderem langsam arbeitende Systeme, technische Schwierigkeiten, Systemausfälle und fehlende Schnittstellen zwischen verschiedenen Gerichten.
III. Einsatz der Codefy Software am LG Ingolstadt
In Anbetracht dieser Herausforderungen wird aktuell in einem Pilotprojekt des bayerischen Justizministeriums am Landgericht Ingolstadt eine Software des Legal Tech-Startups Codefy GmbH getestet. Offizielle Ergebnisse der Testphase liegen noch nicht vor, werden aber im Laufe des Jahres erwartet.
Die Software verfolgt dem Anbieter zufolge einen Ansatz als „Hybrid AI“, indem sie Elemente eines Expertensystems mit Elementen des maschinellen Lernens verknüpft. „AI“ steht dabei für „Augmented Intelligence“. Durch diesen Begriff soll betont werden, dass das Programm nicht autonom agiert, sondern eine Unterstützung für den menschlichen Anwender und dessen Entscheidungsfindung darstellt. Mit ausreichen den Daten zur Auswertung und einer vorgegebenen Strukturierung soll die Software z. B. in der Lage sein, Schriftsätze im Hinblick auf bestimmten Sachvortrag automatisch zu durchsuchen und Vorschläge für die Entscheidung zu erstellen, etwa für Teile des Tatbestands.[11]
Hintergrund des Pilotprojekts ist die Klagewelle in Folge des Dieselskandals. Die Vorteile des eingesetzten Programms bestehen in einer schnelleren Arbeit mit der elektronischen Akte. Die Software ermöglicht eine erheblich beschleunigte Durchsuchbarkeit von elektronisch verfügbaren Dokumenten, ein erleichtertes „copy and paste“ von PDF-Dokumenten ohne die üblichen Formatierungsprobleme und die manuelle inhaltliche Strukturierung von elektronisch verfügbaren Akten.
Herzstück der Software ist jedoch der Prüfungsassistent, der es erlaubt, anhand von zuvor definierten Aspekten Vorschläge durch die Software generieren zu lassen. Das Ziel dabei ist es, dass die Richter mithilfe eines aktiven Wissensmanagements und der Erstellung von entsprechenden Vorlagen in die Lage versetzt werden, wiederkehrende Probleme mit Unterstützung der Software schneller zu bearbeiten.
Mögliche Rechtsprobleme
Bei der Anwendung einer derartigen Software stellen sich verschiedene Rechtsprobleme. Bereits die scheinbar einfache Funktion der Durchsuchbarkeit von Dokumenten nach Stichworten wirft rechtliche Fragen auf. Welche Anforderungen müssen hier an die Verlässlichkeit der Software gestellt werden? Droht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn Richter im Vertrauen auf die Vollständigkeit der Suchergebnisse Sachvortrag übersehen?
Problematisch erscheint aber vor allem der weitergehende Einsatz der Software als intelligentes Assistenzsystem, das für Teile der Entscheidung Entwürfe erstellen kann. Liegt hierin schon ein Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit?
IV. Rechtlicher Rahmen für den Einsatz von Software zur Entscheidungsfindung
Im Grundsatz dürfen Entscheidungen der Justiz nur durch Menschen gefällt werden, ein Ersatz des Gerichts durch Software ist verfassungsrechtlich unzulässig.[12] Das ergibt sich aus Art. 92, 97 GG, wonach die rechtsprechende Gewalt ausdrücklich den (menschlichen) Richtern übertragen wird.[13] Hinzu kommt, dass das Grundgesetz anknüpfend an die Erfahrungen aus der NS-Zeit die Judikative gem. Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht“ bindet und damit die Einhaltung fundamentaler Gerechtigkeitsvorstellungen betont.[14] Das steht im Widerspruch zum Einsatz eines Algorithmus zur Entscheidungsfindung, der „blind“ Regeln befolgt.
Ferner spielen in der Rechtsprechung nicht nur rein logische Erwägungen, sondern auch zutiefst menschliche Empfindungen wie Empathie und Zuwendung eine entscheidende Rolle.[15] Und schließlich muss berücksichtigt werden, dass sich die Bedeutung gerichtlicher Verfahren nicht darin erschöpft, dass eine Entscheidung getroffen wird. Sie dienen auch dem Rechtsfrieden insgesamt und der Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit. Nicht umsonst stellt die Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens einen wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsatz dar.[16]
Hohe Anforderungen an Einsatz der Software zu stellen
Aus all diesen Gründen ist der Ersatz menschlicher Richter durch KI ohne tiefgreifende Verfassungsänderung nicht möglich. Auch in den Anwendungsfällen, in denen eine Software den Richter lediglich unterstützt und ihm Entscheidungen teilweise abnimmt, sind aufgrund der Unabhängigkeit des Richters – auf die dieser nicht verzichten darf – hohe Anforderungen an den Einsatz der Software zu stellen. Werden dem Gericht durch automatisierte Prozesse Entscheidungen abgenommen, ist das mit der richterlichen Unabhängigkeit nur vereinbar, wenn dem Richter die Funktionsweise der Software vollständig bewusst ist, was etwa durch eine öffentliche Zertifizierung erreicht werden könnte.[18] Stellt sich die Legal Tech Anwendung für den Richter als Blackbox dar, d.h. versteht er die inneren Abläufe der Anwendung nicht, ist es unzulässig, die Entscheidung auf die Empfehlung dieser Anwendung zu stützen.[19]
V. Zulässigkeit KI-basierter Assistenzsysteme
Was bedeutet das nun für den Einsatz von Legal Tech Assistenzsystemen in der Justiz? Dürfen innovative Programme zur Unterstützung des Gerichts nur unter den genannten strengen Voraussetzungen eingesetzt werden?
Entscheidend kommt es hier auf die Frage an, wie sehr sich das Gericht auf die Ergebnisse der Software verlässt. Die Unabhängigkeit des Gerichts in seiner Entscheidung ist nur betroffen, wenn tatsächlich zu befürchten ist, dass das Gericht einen Teil seiner originären Aufgaben hinsichtlich der Erfassung des Sachvortrags oder der rechtlichen Würdigung auf die Software auslagert. Auf die Erwartungshaltung des Nutzers der Software abzustellen, entspricht der Rechtsprechung zu Legal Tech-Angeboten im Grenzbereich zur nach § 2 RDG erlaubnispflichtigen Rechtsberatung. So hat das OLG Köln z. B. in Bezug auf einen Dokumenten-Generator entschieden, dass es sich nicht um Rechtsberatung handele, weil der Nutzer einen solchen rechtlichen Rat von der Software gar nicht erwarte.[20] Die Begründung führt unter anderem aus, dass jedem Nutzer des Programms klar gewesen sei, dass er keinen Rechtsrat erhalte, sondern in eigener Verantwortung einen Lebenssachverhalt in ein vorgegebenes Raster einfüge, während im Hintergrund ein rein schematischer Ja-Nein-Code ausgeführt werde.[21]
Entsprechendes gilt für Anwendungen bei Gericht. Erwartet das Gericht von der Software gar nicht, dass deren Ergebnisse ungeprüft übernommen werden können, ist eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit nicht gegeben. Es handelt sich dann aus Sicht des Gerichts lediglich um Vorschläge ähnlich zu Entscheidungsentwürfen, die etwa durch einen Referendar oder einen Referatsvorgänger angefertigt wurden.
In Bezug auf das oben beschriebene Beispiel der Software der Codefy GmbH ist nach diesen Grundsätzen davon auszugehen, dass kein Eingriff in die Unabhängigkeit des Gerichts vor liegt, weil für das Gericht als Nutzer der Software erkennbar ist, dass es sich um ein reines Assistenzprogramm handelt, das nicht den Anspruch erhebt, stets inhaltlich richtige Vorschläge zu generieren.
Es liegt auf der Hand, dass eine Suchfunktion für eine elektronische Akte keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, weil die Genauigkeit der Suche stark von der Qualität des Ausgangsmaterials abhängt und insbesondere bei schlecht ein gescannten Dokumenten oder bei handschriftlich abgefassten Schriftsätzen ein Erfolg der Suche nicht garantiert werden kann.
Im Hinblick auf die Funktion des Prüfungsassistenten, bei dem durch den Einsatz von maschinellem Lernen und durch den Rückgriff auf durch Menschen erstellte Vorlagen Vorschläge für den Nutzer erstellt werden, ohne dass für diesen im Detail klar wird, wie das Programm arbeitet, könnte zwar argumentiert werden, hier würde der Nutzer in seiner richterlichen Unabhängigkeit beeinträchtigt, weil er den Prozess hinter den Vorschlägen nicht versteht.
Beim heutigen Stand der Technik sollte indes für jeden Nutzer klar sein, dass automatisch erstellte Textvorschläge einer Software für die Verwendung in einem Urteil nicht dafür geeignet sind, ungeprüft übernommen zu werden. Gegebenenfalls müsste ein entsprechend deutlicher Hinweis in dem Programm angezeigt werden. Ein darüberhinausgehender, auf wendiger Zertifizierungsprozess erscheint hingegen für derart niederschwellige Assistenzsysteme rechtlich nicht erforderlich.
VI. Ausblick und Fazit
Der Einsatz von „intelligenter“ Software in der Justiz sollte unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit stets kritisch hinterfragt werden. Gleichwohl muss aus Sicht des Praktikers davor gewarnt werden, die immer noch recht zarte Pflanze der Digitalisierung in der Justiz dadurch auszutrocknen, dass zu hohe Anforderungen an Assistenzsysteme aus dem Bereich Legal Tech gestellt werden. Allein die Tatsache, dass ein Programm dem Gericht Entscheidungsentwürfe teilweise automatisiert unter Verwendung einer KI erstellt, führt nicht zu einer Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit, wenn klar ist, dass die Ergebnisse des Programms nicht dazu gedacht sind, ungeprüft übernommen zu werden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Investitionen in die digitale Infrastruktur nicht zu Kürzungen bei der personellen Ausstattung der Gerichte führen.
Entwicklung nicht durch übermäßige Regulierung ausbremsen
Problematischer erscheint, wie selbstlernender Software im Justizbereich ausreichend Daten zur Verfügung gestellt werden können, weil aus Gründen des Datenschutzes nicht einfach auf Daten aus anderen Verfahren zurückgegriffen werden kann. Bislang wird zudem nur eine verschwindend geringe Zahl meist obergerichtlicher Entscheidungen veröffentlicht.[22] Hier existieren jedoch bereits vielversprechende Projekte, die in den kommenden Jahren hoffentlich eine verlässliche automatische Anonymisierung von Urteilen ermöglichen, so dass in Zukunft sämtliche Urteile veröffentlicht werden könnten.[23] Der damit entstehende Datenberg dürfte dazu führen, dass Assistenzsysteme auf KI Basis in der Justiz deutlich an Bedeutung gewinnen. Hinzu kommt, dass der Prozess der Digitalisierung mit der Einführung der elektronischen Akte nicht abgeschlossen ist. Sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Richterschaft selbst werden bereits weitere Schritte in Richtung eines vollständig online stattfindenden Zivilprozesses gefordert.[24] Dabei werden auch neue digitale Instrumente, wie z.B. Online-Zugangsportale bei den Gerichten mit strukturierten Eingabemasken vorgeschlagen.[25] Der Bedarf nach Legal Tech Lösungen wird sich dadurch weiter verstärken. Es erscheint wünschenswert, diese Entwicklung nicht durch eine übermäßige Regulierung auszubremsen. Vielmehr sollte ein gesundes Maß an Vertrauen in die verantwortungsbewusste Anwendung von Software durch die Richterschaft gesetzt werden.
Hinweis | Dieser Beitrag wurde für die Veröffentlichung auf legal-tech.de gekürzt. Den vollständigen Beitrag können Sie in der Zeitschrift LTZ Ausgabe 3/22 nachlesen.
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