Videoverhandlung

Markus Hartung im Interview zur „Adhoc-Initiative Legal Tech“: „Gerichte müssen technisch in die Lage versetzt werden, in der digitalen Welt mitzuhalten“

Von Markus Hartung

Die Adhoc-Initiative Legal Tech fordert in einem offenen Brief an die Justizministerien der Länder sowie die Land- und Amtsgerichte sofortige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Justiz während der Coronakrise, zum Beispiel durch Video-Verhandlungen. Die Initiative besteht aus der Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft, helpcheck GmbH, LexFox GmbH (wenigermiete.de), flightright GmbH, JBB Rechtsanwälte, Mauser Rechtsanwälte, financialright GmbH (myRight). Im Interview erklärt Markus Hartung, was ihn und die Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft dazu bewogen hat, sich an der Initiative zu beteiligen und inwiefern eine Digitalisierung der Gerichte notwendig ist.

Herr Hartung, Sie sind mit der Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft Teil der neuen „Adhoc-Initiative Legal Tech\". Was ist der Hintergrund der Initiative und was ist ihr Kernziel?

Wir Initiatoren haben alle sehr intensiv mit Legal Tech zu tun – als Anwälte in unseren Kanzleien oder als Unternehmer. Wir erleben eine gewisse Hilflosigkeit der Justiz, mit den Corona-bedingten Herausforderungen umzugehen. Nachdem zunächst in vielen Gerichten Business as usual stattfand, herrscht jetzt eine Art Stillstand. Während viele erkennen, dass es z. B. über Video gute Möglichkeiten gibt, im Gespräch zu bleiben, scheint es das bei der Justiz nicht zu geben, trotz gesetzlicher Möglichkeiten, Verfahren anders zu organisieren. Unser Bestreben war und ist, in der jetzigen Situation an die Justiz zu appellieren, die Möglichkeiten zu ergreifen, die es alle schon gibt, um der Justiz zu ermöglichen, ihre wichtige Rolle in der digitalen Welt beizubehalten.

Aber es geht natürlich weiter: Unser Ziel ist es, dass die Justiz unabhängig von Corona technisch in die Lage versetzt wird, in der digitalen Welt mitzuhalten. Davon würden wir alle sehr profitieren.

Was hat Sie und die Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft dazu bewogen, sich an der Initiative zu beteiligen?

Bekanntlich machen wir ausschließlich Arbeitsrecht für Arbeitnehmer, und auch wenn wir uns bemühen, unseren Mandanten ohne gerichtliche Verfahren zu helfen, sind wir in Kündigungsschutzsachen doch häufig vor Gericht – und unsere Mandanten sind gerade in Zeiten wie diesen auf eine gut funktionierende Justiz angewiesen.

Eine digitale Justiz mit der Möglichkeit, z. B. Kündigungsschutzverfahren als reine Online-Verfahren zu betreiben, wäre für alle Beteiligten natürlich super! Leider muss man ja mit einer deutlichen Zunahme von Kündigungsschutzverfahren rechnen, denn die Folgen des Lockdowns werden uns bis in das nächste Jahr hinein beschäftigen.

Ist die deutsche Justiz aktuell überhaupt in der Lage, kurzfristig auf die Coronakrise zu reagieren, zum Beispiel bzgl. der technischen Ausstattung?

So allgemein lässt sich das nicht sagen. Wir sehen ja jetzt doch einzelne Initiativen – am Landgericht Düsseldorf, schon länger in Frankfurt, und in der Arbeitsgerichtsbarkeit – und sicher viele andere Beispiele, wo einzelne Gerichte zeigen, wie innovativ die Justiz sein kann. Immerhin! Aber: Wenn man „die Justiz“ nennt, darf man nicht vergessen, dass die Justiz Ländersache ist und Fragen der Gerichtsorganisation und -verwaltung immer auch mit der richterlichen Unabhängigkeit auszubalancieren sind. Da kann man nicht vom Bund oder von den Ländern aus durchregieren. Hinzu kommt, dass die Justiz chronisch unterfinanziert ist – eine echte Schande. Schnelle Lösungen sehe ich da leider nicht.

Gibt es Ihrer Ansicht nach Legal Tech-Lösungen, die langfristig von allen Gerichten genutzt werden sollten?

Ich glaube, ein flächendeckender Einsatz der E-Akte wäre schon mal ein Fortschritt. Ideal wären Plattformen, wo Gerichtsakten für die Beteiligten einsehbar sind und Schriftsätze und Verfügungen hoch- und heruntergeladen werden können – vielleicht sogar in Kombination mit einem Videotool. Überhaupt Video: Eine vernünftige Videokonferenztechnik bzw. entsprechende Online-Tools wären wichtig. Da gibt es ja längst Angebote, die Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind und der strengen DSGVO entsprechen. Dafür braucht die Richterschaft vernünftige Notebooks oder Tablets mit installierter Kamera, und Verhandlungssäle müssten entsprechend ausgestattet werden. Das ist natürlich alles kein Legal Tech, sondern normale Bürotechnik. Aber gerade in Massenverfahren könnte die Justiz gut von Dokumentenautomatisierung und Doc Review-Software profitieren, das wäre eine großartige Unterstützung der Richter. Und später vielleicht noch Ablaufautomatisierung – gibt es alles, Kanzleien setzen das längst ein. Das eignet sich nicht für jedes Verfahren, aber eben doch für sehr viele, und alles, was die Justiz entlastet, hilft ihr und den Rechtsuchenden auch. Letztlich wünschen wir uns doch alle eine moderne und leistungsfähige Justiz! Das war ein entscheidender Faktor, der uns zu diesem offenen Brief bewegt hat.

Herzlichen Dank für das Interview, Herr Hartung!

Foto: Adobe.Stock/©everythingpossible
Weitere Beiträge

Markus Hartung ist Rechtsanwalt, Mediator und Geschäftsführer der Kanzlei Chevalier. Seit 2006 ist er Mitglied des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins (DAV), von 2011 bis 2019 als Vorsitzender. Weiterhin ist er Mitglied im Ausschuss Anwaltliche Berufsethik. Ende 2017 ist das von ihm mitherausgegebene und mitverfasste Buch „Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“ erschienen.

Nach oben scrollen

Immer up-to-date in Sachen Legal Tech
mit dem Legal Tech-Newsletter!

Abonnieren Sie jetzt unseren
Newsletter und erhalten Sie
alle Magazinausgaben und
die neusten Beiträge des Blogs direkt in Ihr Postfach: