Was Gerichte „können“ – Coronapandemie offenbart Defizite bei der IT-Ausstattung der Gerichte

Von Martin Lose

Die Coronapandemie hat in den vergangenen Monaten das öffentliche Leben erheblich eingeschränkt. Die Auswirkungen des Lockdowns sind dramatisch, gleichwohl kann man es auch als Glücksfall sehen, dass er zu einem Zeitpunkt geschah, zu dem technologische Lösungen seine Folgen zumindest teilweise abfedern konnten. Unternehmen und auch Kanzleien haben auf die veränderte Situation reagiert, indem sie in teils beeindruckender Geschwindigkeit auf die Arbeit aus dem Homeoffice umstellten. Die dafür erforderliche technische Infrastruktur war vielfach schon vorhanden oder konnte für einen „Coronabetrieb“ angepasst werden. Zoom- oder Skype-Meetings aus Wohn- und Kinderzimmern gehören inzwischen zum Büroalltag.

Mangelnde IT-Ausstattung lähmt die Justiz – Prozessstau bis Ende 2020

Zugleich hat der Lockdown aber auch ein Schlaglicht auf die Defizite der IT- Ausstattung der Justiz geworfen. Die Gerichte schieben eine Bugwelle an Prozessen vor sich her, weil sie den Betrieb praktisch einstellen mussten. Verhandlungstermine wurden abgesagt und müssen nachgeholt werden. Nach Angaben des Richterbundes wird die Aufarbeitung dieses Prozessstaus die Gerichte noch bis Ende 2020 beschäftigen. Das ist ein Problem, denn das Gewaltmonopol des Staates setzt ein funktionsfähiges Justizsystem voraus, mit dem Konflikte einer verbindlichen Entscheidung zugeführt werden können. Fehlt es daran, verliert der Staat unweigerlich an Legitimation, auch in Zeiten einer Pandemie. Dass COVID-19 auch die Gerichte vor erhebliche Probleme gestellt hat, ist wenig überraschend. Das Ausmaß der Auswirkungen offenbart jedoch auch einige Versäumnisse.

Einsatz von Videotechnik in Gerichten seit 2013 möglich

Der Gesetzgeber hat Gerichten bereits im Jahr 2013 ermöglicht, Gerichtsverhandlungen unter Einsatz von Videokonferenztechnologie durchzuführen. Durch das „Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren“ wurden die Gerichte in die Lage versetzt, den Prozessbeteiligten und deren Beiständen die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz zu ermöglichen, während das Gericht wie gewohnt im Gerichtssaal tagt. Das Gesetz zielt darauf ab, den mit Gerichtsverfahren verbundenen (Reise-)Aufwand für die Beteiligten zu reduzieren. In Pandemiezeiten hätten diese Bestimmungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, den Gerichtsbetrieb aufrechtzuerhalten.

Was die Gerichte wirklich „können“

Das Gesetz überlässt die Entscheidung über die Teilnahme per Videokonferenz den Gerichten. Sie „können“ eine entsprechende Anordnung treffen. Tatsächlich sind die Gerichte jedoch regelmäßig damit konfrontiert, dass sie von ihrer Entscheidung keinen Gebrauch machen können, weil die erforderliche technische Ausstattung fehlt. Nach einer vom Richterbund durchgeführten Umfrage bei den Justizministerien der Länder fehlt es vielfach an Mitteln zur Durchführung von Videokonferenzen in den Gerichtssälen. So verfügen etwa die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt über lediglich eine bzw. drei Videokonferenzanlagen, deren Einsatz teils aufgrund fehlender Bandbreiten scheitert. Was aber nützen innovative Gesetze, die in der Praxis kaum zur Anwendung kommen können?

Die Probleme sitzen noch tiefer: Die IT-Ausstattung der Justiz hinkt gängigen Bürostandards um Jahre hinterher. Ein Beispiel: Die elektronische Aktenführung ist den Gerichten zwar schon seit 2005 möglich, wird aber erst im Jahr 2026 flächendeckend zur Pflicht werden. In der anwaltlichen Praxis wird man damit konfrontiert, dass digital bei Gericht eingereichte Schriftsätze RichterInnen nicht rechtzeitig vorgelegt werden, da diese zunächst zentral ausgedruckt und in den regulären Postlauf eingeschleust werden müssen. Berufungsgerichte weisen auch Wochen nach Einlegung der Berufungsschrift in Verfügungen darauf hin, dass ihnen die Akte vom erstinstanzlichen Gericht noch nicht überstellt worden sei. Aus der Perspektive einer fast vollständig auf digitale Arbeitsprozesse umgestellten Kanzlei wirken solche Erfahrungen seltsam antiquiert.

Forderungen nach einer digitaleren Justiz werden lauter

Inzwischen sind – durch die Erfahrungen des Lockdowns befördert – von vielen Seiten Vorschläge zu hören, wie die Digitalisierung der Justiz schneller voranschreiten könnte. Die FDP fordert etwa in einem „Digitalpakt Justiz“ umfassende Investitionen in die digitale Infrastruktur der Gerichte. Auch die Linken und Grünen fordern, dass die Digitalisierung der Justiz vorangetrieben werden muss.

Zuletzt hat die von den Oberlandesgerichten eingesetzte Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ ein Thesenpapier veröffentlicht, in dem Vorschläge zur Diskussion gestellt werden, wie neue technische Möglichkeiten im Zivilprozess sinnvoll nutzbar gemacht werden können. Zu den Vorschlägen zählen die Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens für Verbraucherverfahren mit niedrigen Streitwerten und die Ausweitung des Einsatzes von Videokonferenzsystemen auch auf die Richterschaft.

Diese Initiativen sind richtig. Die Justiz muss sich an die veränderte Lebenswirklichkeit anpassen und hat auch Eigeninteresse daran. Angesichts sinkender Absolventenzahlen konkurriert sie schon heute mit Anwaltskanzleien und Unternehmen um qualifizierten Nachwuchs. Einigen Bundesländern fällt es bereits heute schwer, offene Richterstellen zu besetzen. Die bevorstehende Pensionierungswelle wird diese Probleme vertiefen. Die nachfolgende Juristengeneration aber besteht aus Digital Natives, die ihre Berufswahl auch von den (digitalen) Arbeitsbedingungen abhängig macht.

Foto: Adobe.Stock/©phonlamaiphoto
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Martin Lose ist Rechtsanwalt im Hamburger Büro der internationalen Wirtschaftskanzlei Fieldfisher. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung digitaler Geschäftsmodelle im Hinblick auf deren rechtssichere Ausgestaltung und Verteidigung gegen wettbewerbsrechtliche Angriffe. Er ist außerdem Vorstand im Legal Tech Verband Deutschland e.V.
fieldfisher.com/martin-lose

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