Von Markus Hartung
2021 liegt hinter uns – Zeit, ein Fazit aus Legal Tech-Perspektive zu ziehen. Welche Fortschritte hat 2021 in Sachen Legal Tech gebracht und wo steht die Legal Tech-Szene momentan? Eine Einschätzung liefert Rechtsanwalt und Legal Tech-Experte Markus Hartung im Interview. Er verrät auch, was die Anwaltschaft realistischerweise von 2022 erwarten kann – und wieso die richtige Handhabung von Daten für Anwält:innen und Justiz wichtiger wird als neue Software.
Herr Hartung, die deutsche Legal Tech-Szene blickt auf ein ereignisreiches Jahr 2021 zurück. Unter anderem wurde das Legal Tech-Gesetz verabschiedet und mit dem Smartlaw-Urteil gab es eine richtungsweisende Entscheidung des BGH. Wie schätzen Sie persönlich das Jahr 2021 aus Legal Tech-Perspektive ein? Welche Fortschritte hat es für die Anwaltschaft und Legal Tech-Unternehmen gebracht?
Das Jahr 2021 war für die Legal Tech Szene sehr erfolgreich, aber man muss wohl sagen: Für die Anwaltschaft insgesamt. Nicht nur das sogenannte Legal Tech-Gesetz ist in Kraft getreten, sondern auch die „Große BRAO-Reform“ (von der man allerdings noch nichts spürt, da sie erst am 1.8.2022 in Kraft tritt). Neben der Smartlaw-Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH gab es die mindestens ebenso wichtige AirHelp-Entscheidung des II. Zivilsenats. Insgesamt hat sich die Rechtssicherheit für die Branche sehr verbessert.
Das Jahr war für die Anwaltschaft gut, auch wenn viele Funktionäre noch hadern. Die Anwaltschaft befindet sich im Umbruch, das ist für manche schmerzhaft. Am Ende werden wir aber eine leistungsfähige und bestens ausgelastete Anwaltschaft haben. Für Verbraucher:innen und die Mandantschaft wird es besser, weil sie ein vielfältigeres Angebot für ihre Rechtsprobleme bekommen.
Was ich auch sehr wichtig finde, und was Ausdruck der wachsenden Bedeutung von Legal Tech ist: Mit dem Legal Tech Verband Deutschland ist ein weiterer Verband neben die traditionellen Anwaltsvertretungen BRAK und DAV getreten und hat im Gesetzgebungsverfahren tiefe Fußabdrücke hinterlassen. Dieser Verband ist kein reiner Interessenverband und spricht nicht nur für Legal Tech-Unternehmen, sondern für alle diejenigen, die den Rechtsmarkt modernisieren und verbraucherfreundlicher gestalten wollen. Zu den Mitgliedern gehören Versicherungen, Legal Tech-Unternehmen und eben auch viele Anwältinnen und Anwälte.
Das Jahr 2021 war weiterhin geprägt von der Corona-Pandemie. Welche Auswirkungen, positiv wie negativ, haben Sie hier auf die Legal Tech-Szene gesehen?
Corona hat uns 2020 wie 2021 gezeigt, wie wichtig die Digitalisierung ist – oder sein könnte. In Deutschland hängen wir hoffnungslos hinterher und hoffen, dass die Ampel-Koalition ihre Digitalisierungsvorsätze wenigstens teilweise umsetzen kann.
Wenn man sich vor Augen führt, wie viele Ressourcen wir etwa in der Justiz verschwenden, indem wir an altertümlichen Arbeitsweisen und Papierakten festhalten, kann man nur den Kopf schütteln.
Im Jahr 2021 gab es aber die Initiative zur Modernisierung der Justiz, was auch für die Legal Tech-Szene wichtige Impulse gibt. Ansonsten: Die Szene lebt vom persönlichen Austausch, von Treffen auf Konferenzen und bei Roundtables. Das kommt seit 2020 permanent zu kurz. Video ist ja schön und gut, aber nichts geht über den persönlichen Austausch.
Das Jahr 2021 endete mit einem Regierungswechsel. Ein Ausschnitt aus dem Koalitionsvertrag der neuen Regierung (S. 112) lautet:
Wir erweitern den Rechtsrahmen für Legal Tech-Unternehmen, legen für sie klare Qualitäts- und Transparenzanforderungen fest und stärken die Rechtsanwaltschaft, indem wir das Verbot von Erfolgshonoraren modifizieren und das Fremdbesitzverbot prüfen.
Das klingt zunächst noch sehr vage. Was erwarten Sie hier von der neuen Regierung?
Die Regierung ist auch losgelöst vom Koalitionsvertrag in der Pflicht. Denn der Bundestag hat schon in der letzten Legislaturperiode mit dem Legal Tech-Gesetz eine Entschließung verabschiedet, wonach die Bundesregierung aufgefordert wird, das Verhältnis zwischen Anwaltschaft und nichtanwaltlichen Rechtsdienstleistern zu prüfen. Darauf setzt der Koalitionsvertrag quasi auf, aber mit einer klaren Ansage: Der Rechtsrahmen für Legal Tech soll erweitert werden. Die Formulierungen mögen vage klingen, aber die Eingeweihten wissen sehr gut, was damit gemeint ist. Ich erwarte, dass sich der Liberalisierungs- und Professionalisierungskurs fortsetzt.
Was sind Ihrer Meinung nach aus Legal Tech-Sicht weitere spannende Punkte aus dem Koalitionsvertrag?
Die Koalition hat große Pläne, was die Digitalisierung der Justiz angeht, und trifft auf eine änderungsbereite Richterschaft, die ihrerseits wirklich gute Initiativen zur Modernisierung von Verfahren gestartet hat. Weiterhin will die Koalition den kollektiven Rechtsschutz ausbauen. Das geht überhaupt nur mit innovativer Technik. Ob davon alle Legal Tech-Inkassounternehmen profitieren werden, muss man abwarten, denn der Trend geht zu bestimmten klageberechtigten Verbänden, um das Entstehen einer Klageindustrie nach US-amerikanischem Horror-Beispiel zu verhindern. Aber trotzdem: Technik und Innovation werden immer wichtiger, das wird die gesamte Rechtspflege nach vorne bringen, und das wiederum gehört auch zur Legal Tech-Sicht.
Was können Anwälte und Anwältinnen realistischerweise in Sachen Legal Tech 2022 erwarten?
Anwältinnen und Anwälte wären vermutlich erstaunt, wenn sie realisieren würden, was heute bereits technisch möglich ist. Der Grund dafür, dass die Digitalisierung der Anwaltschaft – oder der Rechtspflege insgesamt – so zäh verläuft, liegt an den völlig altertümlichen Arbeitsweisen, die wir in der Rechtspflege seit Jahrhunderten pflegen. Das gilt für die Justiz wie für die Anwaltschaft.
Daher werden die großen Änderungen nicht so sehr durch neue Software kommen, sondern durch eine andere Handhabung von Daten: Je mehr Daten strukturiert werden, je mehr die „Organe der Rechtspflege“ sich bereit erklären, nicht mehr tonnenweise unstrukturierten Datenmüll zu produzieren, sondern in der Neuzeit anzukommen, desto leistungsfähiger wird Software, oder genauer: Desto besser kann Software unterstützen. Dann wird man feststellen, wie angenehm das Leben sein kann, wenn einem der Standard- und Routinekram durch Technik abgenommen wird und wie leistungsfähig man wird, wenn man innovative Software einsetzt. Endlich kann man sich auf das konzentrieren, was gesellschaftlich sinnvoll ist (und Spaß macht): Mandanten und Mandantinnen bestmöglich zu beraten und vertreten. Nur darauf kommt es an.
Vielen Dank für das Interview!
Das Interview führte Verena Schillmöller.
Markus Hartung ist Rechtsanwalt, Mediator und Geschäftsführer der Kanzlei Chevalier. Seit 2006 ist er Mitglied des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins (DAV), von 2011 bis 2019 als Vorsitzender. Weiterhin ist er Mitglied im Ausschuss Anwaltliche Berufsethik. Ende 2017 ist das von ihm mitherausgegebene und mitverfasste Buch „Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“ erschienen.