„Man staunt oft, was in anderen Ländern geht, aber bei uns vor unüberwindbaren Hürden steht“

Der Legal Tech-Jahresrückblick: Legal Tech-Experte Markus Hartung im Interview

Die Legal Tech-Branche hat ein spannendes Jahr hinter sich gebracht: Der Einsatz von ChatGPT hat auch den Arbeitsalltag in vielen Kanzleien gründlich aufgemischt und neue Anwendungen, die Künstliche Intelligenz (KI) integrieren, sind auf den Markt gekommen. Doch wie groß war der Einfluss von KI und ChatGPT auf Kanzleien wirklich? Wie hat sich die Legal Tech-Szene in 2023 entwickelt? Und was können wir in Zukunft erwarten? Wir sprechen mit Markus Hartung über die Fortschritte und Herausforderungen des Jahres 2023, seinen Ausblick auf 2024 – und über die unterschiedlichen Herausforderungen, mit denen Anwaltschaft und Justiz sich in Hinblick auf die Digitalisierung in den nächsten Jahren konfrontiert sehen.

Herr Hartung, wie haben Sie das Jahr 2023 aus Legal Tech-Perspektive wahrgenommen?

Markus Hartung: Es war ein sehr lebendiges Jahr, in dem KI/AI die Gespräche in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft geprägt hat. Der Begriff des Jahres ist sicherlich „ChatGPT“. Was uns, also die Rechtspflege betrifft: Gut gefallen haben mir die Diskussionen und Überlegungen über die Modernisierungsbedürftigkeit der Justiz, gerade auch wegen der Ergebnisse der BMJ-Studie zum Rückgang der Eingangszahlen in der Zivilgerichtsbarkeit. Was die Anwaltschaft angeht, so ist mein Eindruck, dass es vergleichsweise ruhig war.

Was ist Ihr Fazit nach einem Jahr ChatGPT: Welche Vorteile hat der Einsatz dieser neuen KI-Tools der Anwaltschaft gebracht und welche Herausforderungen haben sich daraus ergeben?

Wir schwanken nach diesem Jahr zwischen starker Skepsis, dunklen Befürchtungen und himmelstürmenden Erwartungen an Sprachmodelle. Tatsächlich hat wohl jeder damit herumexperimentiert, in vielen Anwendungen für Kanzleien findet man inzwischen Sprachmodelle, mehr oder weniger gut integriert. Haben die Sprachmodelle unser Leben schon nachhaltig verändert? Gibt es bereits Anwendungen, die über ein erweitertes Experimentieren hinausgehen und unmittelbar in die anwaltliche/juristische Leistungserbringung integriert sind? Da wäre meine Antwort: Eher nein. Aber das will nichts heißen, denn man muss ja z. B. nur nach München zu Björn Frommer (Anm. der Red.: CEO des Software-Unternehmens June) oder nach Hannover zu Michael Friedmann (Anm. der Red.: CEO von Prime Legal AI) schauen, um zu sehen, was da bereits entwickelt wurde und weiterentwickelt wird. Das ist alles hochinnovativ, braucht aber natürlich für die weitere Entwicklung und den Vertrieb weitere Ressourcen. Bis zum Mainstream ist es noch ein ziemlicher Weg.

Sind Sie eher zuversichtlich oder skeptisch?

Was die Anwaltschaft angeht, bin ich zuversichtlich, denn dort gibt es inzwischen schon so etwas wie ein digitales Mindset – okay, das ist vielleicht etwas zu optimistisch, aber ich lasse das mal so stehen. Wir können mit Spannung erwarten, was sich alles entwickeln wird.

Auf lange Sicht wird sich die Anwaltschaft aber schon sehr umstellen müssen. Bisher haben nur Anwälte und Anwältinnen im B2C-Bereich miterlebt, was es heißt, Konkurrenz durch Legal Tech-Inkassodienstleister zu bekommen. Irgendwann werden B2B-Kanzleien mit einem kleiner werdenden Markt umgehen müssen, wenn nämlich Unternehmen für ihren eigenen Bedarf zunehmend Sprachmodelle einsetzen oder aber mit Blick auf die Effizienzsteigerungen anders in Preisverhandlungen mit Kanzleien hineingehen als früher. Das ist allerdings noch nichts für 2024, auch wenn es einzelne Beispiele geben wird. Viele der großen wirtschaftsberatenden Kanzleien haben bereits damit begonnen, ihre Aufstellung zu überprüfen und anzupassen. Das wird sich fortsetzen (müssen).

Ich bin hingegen skeptisch, was die Geschwindigkeit der Umsetzung in Justiz und Verwaltung angeht.

Deutschland ist ein extrem langsames und träges Land, in dem es viele analoge und längst überholte Verwaltungsabläufe gibt, die als „bewährt“ bezeichnet werden, tatsächlich aber lähmend und nicht zukunftstauglich sind.

Man staunt oft, was in anderen Ländern geht, aber bei uns vor unüberwindbaren Hürden steht. In einem solchen Umfeld mit einer Verwaltungsstruktur, die nicht bereit ist, von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen, kein echtes Leistungsprinzip kennt und sich gegen Veränderungen fast abgeschottet hat, erreicht man mit der besten Software nichts.

Die Legal Tech-Branche zeichnet sich auch durch eine junge und innovative Start-up-Szene aus. Besonders spannend wird es beim Thema Künstliche Intelligenz, denn hier sind es oft die Start-ups, die neue und disruptive Ideen entwickeln. Wie schätzen Sie die Entwicklung der deutschen Legal Tech-Start-up-Szene im Jahr 2023 ein?

Die Szene ist tatsächlich sehr lebendig, aber nicht so sichtbar wie in den letzten Jahren. Das liegt aber daran, dass die Legal Tech-Szene Schlagzeilen wegen der Frage der Zulässigkeit von Geschäftsmodellen gemacht hatte, nicht so sehr wegen der Technik als solcher. Seitdem hier fast alles höchstrichterlich geklärt ist, findet die Entwicklung nicht mehr so sichtbar und prominent statt – aber sie findet statt: Gerade wurde z. B. Justin Legal, ein nicht sehr bekanntes Berliner Start-up, von Westernacher Solutions übernommen, was ein Beleg für die Innovationskraft der Szene und die Erwartungen in die Vermarktungsfähigkeit ist. Man bekommt weiterhin einen guten Eindruck, wenn man sich das Legal Tech CoLab an der TU München anschaut: Da gibt es sehr innovative Ideen, aus denen etwas werden kann.

Was sind aus Ihrer Sicht die dringendsten Themen, die die Politik 2024 aus Legal Tech-Sicht angehen sollte?

Hier muss man wieder zwischen Anwaltschaft und Justiz unterscheiden: Bei uns in der Anwaltschaft gibt es m. E. keine Legal Tech-spezifischen Themen, die dringend geregelt werden müssen. Das Fremdbesitz-Thema ist kein originäres Legal Tech-Thema, auch wenn es in diesem Zusammenhang diskutiert wird. Außerdem wird der Gesetzgeber lieber die EuGH-Entscheidung abwarten, bevor er aktiv wird. Ansonsten werden wir weiterhin damit leben müssen, dass Anwältinnen und Anwälte einerseits und innovative Inkassounternehmen andererseits völlig unterschiedlich reguliert werden, auch wenn sie dasselbe tun.

In Justiz und Verwaltung ist es anders: Der Föderalismus hat viele gute Seiten, aber wenn es um Digitalisierung und Skalierung geht, muss man sich vom regionalen Klein-Klein lösen. Wir brauchen für Projekte aus den Bereichen eJustice und eGovernment, welche die Lebenswirklichkeit in ganz Deutschland maßgeblich prägen, ein zentrales Projektmanagement mit Entscheidungsbefugnissen, ohne Veto-Rechte der Länder. Nach einer Bucerius-Studie liegt Deutschland ca. 15 Jahre in der Entwicklung zurück, aber man hat noch nicht den Eindruck, dass das irgendjemanden in Bund und Ländern wirklich beunruhigen würde.

Anfang 2022 haben Sie als These für die weitere Entwicklung der Legal Tech-Branche aufgestellt, dass „die großen Änderungen nicht so sehr durch neue Software kommen, sondern durch eine andere Handhabung von Daten“. Welche Veränderungen erwarten Sie realistischerweise in Sachen Legal Tech vom Jahr 2024?

Das ist nicht so leicht zu sagen. Meine damalige Annahme war offenbar zu skeptisch – auch wenn ich Anfang 2022 bereits über „Jura-GPT“ geschrieben habe. Damals, im Januar 2022, kam mir das noch wie Zukunftsmusik vor. Kaum zehn Monate später wurde ChatGPT veröffentlicht. Seitdem hat sich alles sehr schnell weiterentwickelt, so dass es mit Prognosen noch schwerer wird als ohnehin schon. Bei uns in der Kanzlei laufen verschiedene Projekte, in denen wir Einsatzmöglichkeiten von Sprachmodellen bearbeiten, und das werden viele Unternehmen und Kanzleien ähnlich machen. Das wird sich über das Jahr gesehen fortsetzen.

Gleichzeitig können Nutzer von Microsoft Office inzwischen mit dem Tool Copilot arbeiten, und meine Vermutung ist, dass sich daraus noch weitere Anwendungsbereiche ergeben werden. Sprachmodelle sind momentan sehr niedrigschwellig verfügbar – nämlich dort, wo es Word gibt –, so dass so etwas wie ein schwarmbasiertes Ausprobieren der neuen Möglichkeiten stattfindet. Dass das Kanzleien vor neue Herausforderungen zum Thema Qualitätskontrolle stellt, steht auf einem anderen Blatt.

Die wesentliche Veränderung wird in dem Lernprozess liegen, dass Teile dessen, was wir als „anwaltliche Arbeit“ verstehen, von Software erledigt (und nicht nur unterstützt) wird. Theoretisch wissen wir das längst, nur fehlte die passende Software. Jetzt wird es praxisrelevant.

Bezogen auf Justiz und Verwaltung: siehe meine vorherige Antwort. Wenn wir die dortigen Abläufe nicht digitalisieren (und das ist deutlich mehr als die Einführung von Software), dann fällt die Justiz weiter zurück. Da können Sprachmodelle noch so leistungsfähig werden. Anwaltschaft und Justiz werden sich dann noch weiter auseinanderentwickeln. Das wäre eine bedrückende Entwicklung.

Zum Abschluss: Was war Ihr persönliches Legal Tech-Highlight aus dem Jahr 2023, worauf freuen Sie sich in 2024?

Endlich wieder Konferenzen und viele Gelegenheiten für persönliche Begegnungen! Das Jahr begann mit einer fulminanten Legal Revolution und endete mit der Legal Tech Night & Day des Legal Tech Verbands. Auch dazwischen gab es viele interessante Möglichkeiten und innovative Formate, um sich zu treffen. Ich hoffe, dass sich die persönlichen Begegnungen im Jahr 2024 fortsetzen und intensivieren, denn: AI entwickelt sich exponentiell, und da wird der Austausch aller Marktteilnehmer noch viel wichtiger als bisher.

Herr Hartung, vielen Dank für das Interview.

Bildquelle: Adobe Stock/Li Ding
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Markus Hartung ist Rechtsanwalt, Mediator und Geschäftsführer der Kanzlei Chevalier. Seit 2006 ist er Mitglied des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins (DAV), von 2011 bis 2019 als Vorsitzender. Weiterhin ist er Mitglied im Ausschuss Anwaltliche Berufsethik. Ende 2017 ist das von ihm mitherausgegebene und mitverfasste Buch „Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“ erschienen.

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