Anwalt2023 – Die Digitalisierung der Justiz im Fokus

Status-Quo und Diskurs zu neuen Chancen und Herausforderungen

Von Angela Baral

Am 13. November 2023 hatte der Bayerische AnwaltVerband e.V. zur Präsenz-Tagung Anwalt2023 geladen. Im ConferenceCenter des Hauses der Bayerischen Wirtschaft wurde der aktuelle Stand der Digitalisierung der Justiz thematisiert und die zahlreichen interessierten Anwesenden aus Anwaltschaft und Justiz waren dazu eingeladen, miteinander in den Diskurs zu treten.

Was heißt hier Digitalisierung? Thesen zum aktuellen Einsatz von Technik in Kanzleien und in der Justiz

Im ersten Vortrag formulierte der Präsident des Bayerischen AnwaltVerbands, Rechtsanwalt Michael Dudek, 40 Thesen zur Digitalisierung der Justiz mit denen er zur Diskussion anregen wollte. Zunächst blickte er auf die Anwaltschaft: Das beA zwingt Kanzleien zur Vorhaltung und ständiger Erneuerung eines bestimmten technischen Standards – und stellt damit immer wieder Kosten- und Haftungsfragen. Was wäre passiert, hätte man die Benutzung von beA freigestellt? Wenn die Entwicklung tatsächlich disruptiv verläuft, hätte es eigentlich keinen Benutzungszwang gebraucht.

Auf Seiten der Kundschaft konstatierte Dudek, dass Beratung immer individueller und interprofessioneller nachgefragt wird und sich vor allem in wirtschaftlichen Prozessen zeitlich immer weiter nach vorne verlagert. Eine Schwierigkeit bei Legal Tech sei, dass regelbasierte Programme einen bereits subsumierten, d. h. in die rechtliche Terminologie übersetzten Sachverhalt erfordern, was häufig unterschätzt wird.

Beim Gliederungspunkt Justiz und Digitalisierung stellte Dudek die These auf, dass KI zur Bewältigung von Massenverfahren zu Intransparenz in den Verfahren führt und zu Abhängigkeit von der technischen Anwendung. Viele Fachleute forderten eine kritische Bestandsaufnahme vor den nächsten Entwicklungsschritten zur Anwendung von KI. Die Situation hat eine hohe Eigendynamik, es gibt keine echten Testphasen. Aufgrund der hohen Investitionskosten und der Konkurrenz unter den Bundesländern gibt es kein Zurück oder zumindest kein Nachjustieren mehr. Die Geschäftsstellen der Gerichte können die aktuelle Technik, so sie bereits vorhanden ist, nur mit überobligatorischem Einsatz bedienen. Es bedarf der kritischen Analyse, was Geschäftsstellen in Zukunft noch leisten sollen und können.

Bei der Betrachtung der Digitalwirtschaft merkte Dudek an, dass im Rechtsmarkt ein riesiges wirtschaftliches Potential liegt, weshalb auch große Unternehmen darin investieren. „Das Problem besteht bereits vor der Anwendung von KI und heißt Big Data.“ Die Digitalisierung der Justiz macht einen bislang sehr wichtigen, aber bislang noch nicht digitalisierten, gesellschaftlichen Bereich nutzbar. Verhalten wird erfasst, analysierbar und antizipierbar. Die Frage ist: „Was sind die Folgen der Anwendung bestimmter Techniken, was die der Kombination von Techniken, z. B. Big Data und Neurowissenschaften?“. Schließlich folgte Dudeks These von Technik als Droge: „Wir fliehen in immer komplexere Lösungsansätze, statt uns um das Wesentliche zu kümmern.“ Letztlich erleichtere Digitalität Regierbarkeit und begünstige Totalitarismus.

Stand der Digitalisierung der Justiz in Deutschland: Auswirkungen auf die Anwaltschaft und die Aktivitäten des DAV

Zum Ende seines Vortags forderte Dudek zum regen Austausch über seine Thesen auf und leitete dafür direkt zu RAinuNin Edith Kindermann über.

„Wir kriegen das gesamte Thema nur in den Griff, wenn wir es gemeinsam tun.“ so die Präsidentin des DAV. Die Justiz muss verstehen wie die Anwaltschaft funktioniert und umkehrt. Außerdem müssen im Veränderungsprozess die Menschen mitgenommen werden. „Ich muss wissen, warum ich welchen Weg gehe und die Konsequenzen tragen.“ Aber sie betonte: Wir geben die Art der Rechtsfindung vor und ordnen uns nicht der Technik unter. Kindermann wies auf das Grundlagenpapier der OLG-Präsidenten zum Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz hin.

Einen großen Schritt weiter wird die Anwaltschaft ein aktuelles Gesetzesvorhaben des BMJ bringen: Der „Referentenentwurf zur weiteren Digitalisierung der Justiz“ schafft an zumindest drei Stellen Erleichterung: Abschaffung der Schriftformerfordernis bei § 10 RVG, Einreichung von bspw. PKH-Erklärung in digitaler Form (§ 130a ZPO) und Formfiktion nach § 130e, für Willenserklärungen die mit Schriftsätzen elektronisch bei Gericht eingereicht werden.

Pilotprojekte an Gerichten

Zur Frage welche Modelle es bei der Bearbeitung von Massenverfahren braucht, schilderte Kindermann zwei Projekte. Am OLG Stuttgart wird OLGA eingesetzt, ein Programm das Metadaten aus Schriftsätzen herausfiltert. Außerdem schlägt es z. B. einen Hinweisbeschluss vor, den der Richter oder die Richterin anschließend überprüfen muss. In Niedersachsen läuft derzeit MAKI im Probebetrieb, eine Struktur die für alle Massenverfahren geeignet ist und vom jeweiligen Richter individuell auf seine Fälle angepasst wird. Die entscheidende Frage wird sein: Traut sich der Anwender oder die Anwenderin vom Vorschlag der Technik abzuweichen? Oder hat er dadurch Begründungsaufwand? Der menschliche Faktor ist empirisch nachgewiesen: er geht mit dem Vorschlag der Technik. Auch zu beachten ist, ob es noch genügend Zeit für individuelle Bearbeitung gibt. Steht der Richtervorbehalt eventuell nur noch auf dem Papier?

Massenverfahren waren der Trigger für den strukturierten Parteivortrag. Die Diskussion entspinnt sich seither um das Basisdokument: Der Beklagtenvertreter lädt das Dokument des Klägers herunter und fügt seinen Vortrag ein, der Richter kann anschließend Hinweise geben. Kindermann lehnt dieses Vorgehen für die Anwaltschaft komplett ab. Die Erprobung an einfachen Fällen ist nicht aussagefähig.

Man sollte besser darüber reden, ob man Verfahren strukturieren kann.

Im DAV arbeiten verschiedene Ausschüsse am Thema Digitalisierung und sind direkt ans Präsidium angebunden. Es finden Gespräche mit Bund und allen Ländern statt, mit Universitäten, mit der BRAK, mit Softwareherstellern und Wissensmanagementsystemen. „Wir bekommen das hin. Wenn wir es alle zusammen machen.“ beendete Kindermann Ihren Vortrag.

Beispiele zur Digitalisierung der Justiz: internationale Erfahrungen bei der Suche nach guten Lösungen

Prof. Dr. Matthias Kilian, Direktor des Soldan Instituts und des Instituts für Anwaltsrecht der Universität zu Köln, sprach anschließend zu internationalen Erfahrungen bei der Suche nach guten Lösungen bei der Digitalisierung der Justiz.

Mit fünf Weisheiten führte Kilian in seinen Vortrag ein:

  1. Künstliche Intelligenz ist nicht so geheimnisvoll, wie häufig gedacht wird.
  2. KI ist auch nicht so fortgeschritten, wie häufig erwartet wird.
  3. Nicht überall wo KI /Legal Tech darauf steht, ist sie auch drin.
  4. KI bietet für Juristinnen und Juristen vor allem Chancen, nicht Risiken.
  5. Und schließlich: Nicht alles wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Bei der Frage wo wir stehen, stellte Kilian fest, dass die deutsche Justiz beim Thema Digitalisierung einen Rückstand von etwa zehn Jahren auf die führenden Nationen hat. Die Gründe hierfür liegen in datenschutzrechtlichen Aspekten, an einer traditionell geprägten Verfahrensordnung und am föderalen System. Weltweit wird die Bedeutung der Digitalisierung der Justiz immer größer, so Kilian beim Blick auf internationale Lösungen.

China, Schweiz und Estland als Vorreiter für digitale Justiz

Vollständig digitale Gerichte und Gerichtsverfahren gibt es zum Beispiel in China. In der Schweiz wird als Legal Tech-Hilfestellungen für Rechtsanwälte und Richter ein „DeepJudge“ Algorithmus eingesetzt, der unter anderem Dokumente analysieren und sie mit bereits früher analysierten Gesetzestexten, Urteilen und Verträgen vergleichen kann. In Frankreich gibt es Programme zur Legal Tech-Hilfestellung für Rechtsanwälte und Richter, die die Entscheidungsfindung erleichtern sollen.

Das estnische Staatswesen ist fast zu 100 Prozent digitalisiert, seit 2006 ist das gesamte Justizsystem praktisch digital. Begünstigt wurde die schnelle Digitalisierung durch die überschaubaren Dimensionen: Estland verfügt über vier Landgerichte, zwei Verwaltungsgerichte, zwei Bezirksgerichte als Rechtsmittelinstanzen und einen Staatsgerichtshof.

In seinem Ausblick stellte Kilian dar, dass durch die fehlende Digitalisierung der Justiz in Deutschland das Risiko eines fortgesetzten und ungebremsten Abwärtstrends der zivilgerichtlichen Eingangszahlen steigt. Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens lösen ihre Konflikte ohne Hilfe der Justiz. Alternative Streitlösungskonzepte werden immer beliebter. Auf dem Spiel steht letztlich die Rolle der unabhängigen Judikative in unserem demokratischen Rechtsstaat. Notwendig ist ein vertrauensstiftender Rechtsrahmen für alle Nutzerinnen und Nutzer, insbesondere für Verbraucherinnen und Verbraucher: die KI-Verordnung der Europäischen Kommission.

Brennpunkt: Stundensatzvereinbarungen 2023

Ein weiteres brisantes Thema nahm sich Sabine Jungbauer, Geprüfte Rechtsfachwirtin auf der Agenda vor: Stundensatzvereinbarungen 2023. Nach Darstellung der Probleme, die bei Stundensatzvereinbarungen auftreten können, erläuterte sie die entsprechende EuGH-Entscheidung. Demnach sind fehlende Informationen bzw. fehlende Transparenz zum richtigen

Zeitpunkt problematisch. Unter Einbeziehung nationaler Entscheidungen und weiterer Quellen gab Jungbauer praktische Formulierungshilfen und stellte Vorteile und Gefahren der verschiedenen Vorgehensweisen vor. Schließlich verglich sie Mindestvergütungsklausel und Stundensatz und zeigte wie man Honorarverluste durch Abrechnung nach Zeitabschnitten vermeidet. Dabei betonte die Referentin mehrfach, dass man mit Aufklärung und Transparenz am besten zu einem für beide Seiten zufriedenstellenden Ziel kommt.

Fazit des Präsidenten des Bayerischen Anwaltverbands

Dudek zog als Fazit aus den Vorträgen: Denken Sie immer ans Geld, unterstützen Sie die starke Interessensvertretung durch den DAV, für den Edith Kindermann als hoch geschätzte Präsidentin unermüdlich und erfolgreich agiert und lassen Sie sich inspirieren durch die von Prof. Dr. Kilian dargestellten Impulse aus anderen Ländern. Zuletzt bedankte sich BAV-Präsident Dudek bei den Teilnehmenden für ihr Interesse und ihre engagierten Diskussionsbeiträge und bei Frau Baral mit der MAV GmbH für die hervorragende Organisation der Tagung.

Eindrücke von Anwalt2023

Bilder: ©Claudia Breitenauer
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Angela Baral leitet seit 2017 die MAV GmbH, ein Unternehmen des Münchener AnwaltVerein e.V. und veranstaltet dort erfolgreich Seminare für Anwältinnen und Anwälte: online, hybrid und in Präsenz.

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