Von Ruth Gutenberg
Von Neuseeland, Frankreich oder Portugal aus arbeiten: Für viele Anwälte und Anwältinnen ist das ein Traum. Ruth Gutenberg hat diesen Traum zu ihrer Realität gemacht: Sie hat sich direkt nach dem Referendariat als digitale Einzelanwältin selbstständig gemacht und kann – dank ihrer digitalen Kanzlei – von überall auf der Welt arbeiten. Im Interview verrät sie, welche Vorteile die Digitalisierung für die Beratung von Mandant:innen hat, wie sie ihre digitale Kanzlei organisiert und welche Herausforderungen es für remote arbeitende Anwälte und Anwältinnen noch gibt – zum Beispiel auf Seite der deutschen Justiz.
Frau Gutenberg, erzählen Sie den Leser:innen doch zu Beginn einmal etwas über die Gründung Ihrer Kanzlei: Wieso haben Sie beschlossen, sich als Einzelanwält:in selbstständig zu machen und dabei digital zu arbeiten?
Unmittelbar nach Ende meines Referendariats hatte ich überhaupt nicht das Ziel, mich selbstständig zu machen. Ganz im Gegenteil: Ich begab mich auf Jobsuche und wollte „wie man das so macht“, zunächst in einer Kanzlei arbeiten. Trotz intensiver Suche fand ich aber keine Kanzlei, die mir die Möglichkeit bieten wollte, remote oder zumindest hybrid zu arbeiten. Dabei hätte der Ausbruch der Covid-Pandemie im Februar 2020 zu einem Umdenken in der deutschen Juristerei führen sollen – und zu der Erkenntnis, dass ein Anwalt nie im Büro sitzen muss, sondern von überall aus arbeiten kann.
Mein Partner arbeitete damals in Düsseldorf, wir wohnten in Aachen, mein Pferd stand in der Eifel und unsere Familien wohnten im Saarland. Ich suchte nach Flexibilität und einem Ausweg aus dem stundenlangen Pendeln. Wir wussten zudem, dass wir langfristig nicht in Deutschland leben wollten.
Bei einem von vielen erfolglosen Bewerbungsgesprächen fragte mich mein Gegenüber: „Warum machen Sie sich denn nicht selbstständig? Arbeit für externe Anwält:innen haben wir immer.“ Ich hatte diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen, war aber sofort begeistert von der Idee.
Wissen Sie, was man Referendaren, die auf das Zweite Staatsexamen zugehen, immer wieder einbläut? „Meldet euch sofort nach eurem mündlichen Termin arbeitslos, ansonsten müsst ihr für die Krankenversicherung selbst aufkommen.“ Ermutigend nicht wahr? Und so erhielt ich kurz nachdem bestandenen Examen eine Flut von Infomaterial, das mir helfen sollte, ins Berufsleben einzusteigen. Einer dieser Flyer stellte sich tatsächlich als äußerst hilfreich heraus: „Informationen zum Gründerzuschuss“. Ich bin im Nachhinein nicht sicher, ob ich mich auch ohne Gründerzuschuss getraut hätte, mich selbstständig zu machen. Nicht nur das Geld, welches ich erhielt und die Übernahme der Krankenversicherungsbeiträge machten einen gewaltigen Unterschied, auch die Tatsache, dass ich gezwungen war, einen Businessplan aufzustellen und mir ernsthafte Gedanken über ein Geschäftsmodell zu machen.
Diese Überlegungen und die notwendigen Recherchen im Legal Tech-Bereich brachten mich zu dem Ergebnis, dass ich eine bislang völlig unterrepräsentierte Nische besetzten würde, die aber ein gewaltiges Potenzial bot: Eine völlig remote arbeitende Anwältin, die Menschen in ganz Deutschland, ja der ganzen Welt beraten und vertreten könnte. So ließ sich auch die Rechtsanwaltskammer des Saarlandes, wo meine Kanzlei ihren Sitz hat, und die Agentur für Arbeit von meiner Idee überzeugen. Mir wurde der Gründerzuschuss genehmigt und ich machte mich im April 2021 als digital arbeitende Anwältin selbstständig.
Der Begriff Legal Tech wird zwar immer bekannter, aber dennoch gibt es noch viele Anwältinnen und Anwälte, die nichts mit dem Thema anfangen können (oder wollen). Wie sind Sie vorgegangen, um sich mit Digitalisierungsthemen vertrauter zu machen und sich einen Überblick über die Möglichkeiten zu verschaffen?
Da ich 1990 geboren bin, kann mich an keine Zeit erinnern, zu der ich mit dem Thema der Digitalisierung nicht vertraut war. Im ersten Semester (2010) habe ich eine E-Mail an Beck geschrieben und gefragt, ob es den Schönfelder nicht auch als E-Book gäbe. Mir war damals schon schmerzlich bewusst, wie rückständig das deutsche Justizsystem in der Hinsicht ist. All die verlorene Lebenszeit, die ich und andere Student:innen, WisMits und ReFas damit verbracht haben, Loseblattsammlungen einzusortieren, bereitet mir Kopfschmerzen, wenn ich nur daran denke.
2013/14 habe ich mein LL. M.– Studium an der University of Exeter absolviert – dort war alles digital. Nichts wurde von Hand geschrieben. Bücher standen in einer Onlinebibliothek zur Verfügung. Selten habe ich mich mehr über die deutsche Juristenausbildung geärgert und geschämt als nach meiner Rückkehr nach Deutschland und dem Einstieg in die Examensvorbereitung.
Natürlich ist es nicht hilfreich, sich über die Vergangenheit und vertane Chancen zu ärgern. Ich versuche also eine andere Frage zu beantworten: Was würde ich meinen Kolleg:innen raten, die sich mit modernen Medien vertraut machen wollen?
Der Umgang mit digitalen Medien ist vergleichbar mit dem Erlernen einer neuen Sprache. Je mehr man sich damit umgibt, desto einfacher und selbstverständlicher wird es. Ich kann meine Kolleg:innen also nur ermutigen, der Digitalisierung zuerst im Alltag und im Privatleben zu begegnen, wo sie vielleicht nicht ganz so überwältigend erscheint wie im Berufsalltag. Wer privat Online-Banking betreibt, findet sich deutlich einfacher in digitaler Buchhaltung zurecht und muss auch die Abgabe der Einkommenssteuererklärung via Elster nicht mehr fürchten. Wer regelmäßig FaceTime, Skype, Zoom oder Google Meet nutzt, um mit Familie und Freunden zu kommunizieren, der scheut auch einen digitalen Gerichtstermin nicht. Die meisten Programme sind sehr ähnlich aufgebaut und folgen logischen Schemata.
Wer Smartphones, Tablets und Computer im Alltag benutzt, für den stellt es keine Hürde dar, auch im Arbeitsleben auf digitale Hilfsmittel zurückzugreifen.
Sie sind auf das Familienrecht spezialisiert, wo persönliche Betreuung und Einfühlungsvermögen ja stärker im Vordergrund stehen als in anderen Rechtsbereichen. Welche Besonderheiten oder Herausforderungen gibt es hier im Bezug auf die Digitalisierung – z. B. in Online-Gesprächen, wo ein Mandant vielleicht nicht direkt Diskretes preisgeben möchte?
Gerade im Familienrecht bietet digitales Arbeiten viel Potenzial. Ich frage daher umgekehrt: Wo würden Sie lieber über schmerzhafte, peinliche und hochemotionale Themen sprechen: In einem unpersönlichen Konferenzsaal einer schicken Kanzlei in der Innenstadt, in der alle Mitarbeiter genau sehen, wenn Sie sich mit verheulten Augen aus den Räumlichkeiten flüchten? Oder zuhause auf Ihrem Sofa, in Ihren eigenen vier Wänden, mit einer Tasse heißer Schokolade in der Hand?
Natürlich geht es nicht allen Menschen so – aber alle meine Mandanten waren bisher sehr zufrieden damit, digital mit mir zu kommunizieren. Die meisten haben mich genau deswegen ausgewählt. Nicht nur die Privatsphäre im eigenen Zuhause ist mein „Selling-Point“. Die gleiche Flexibilität, die ich mir mit meinem Geschäftsmodell ermögliche, kann ich auch an meine Mandanten und Mandantinnen weitergeben: Sie möchten ein kurzes Gespräch aus Ihrem Büro heraus in der Mittagspause? Sie haben keinen Babysitter gefunden, wünschen sich aber dringend ein Erstgespräch? Sie wünschen einen diskreten Weg der Kommunikation via E-Mail? Sie wohnen auf dem Land und wollen nicht in die nächste Stadt pendeln müssen? Ich biete einfache Lösungen für all diese Alltagssituationen – das überzeugt Ratsuchende.
Arbeiten Sie vollständig digital oder gibt es auch noch Prozesse, die analog ablaufen?
Wenn es nach mir ginge, würde ich vollständig digital und papierlos arbeiten, leider lässt mich das deutsche Justizsystem aber nicht. Die meisten Gerichte verfügen nicht über die „Möglichkeiten“, um Anträgen gem. §128a ZPO stattzugeben, noch mehr wollen einfach nicht. Ob ich Schriftsätze, Urteile oder Beschlüsse in Papierform oder via beA erhalte, ist vollkommen willkürlich und hängt wohl davon ab, wie die zuständige Geschäftsstelle mitarbeitet. Alles, was sich auf „meiner Seite“ abspielt, was ich beeinflussen kann, findet zu 100 Prozent digital statt.
Bei welchen Prozessen und Workflows hat sich die Digitalisierung am meisten rentiert?
Die Rentabilität des digitalen Arbeitens zeigt sich vor allem im Wegfall der Alltagskosten analoger Arbeitsweisen: Ich habe keine Kosten für Büromaterial, Miete für Kanzleiräume, Faxgeräte oder aufwendige Telefonanlagen. Es gibt keine Aktenschränke und komplizierte Verwaltungssysteme. Ich brauche keine ReFas, kein Sekretariat. All die Kosten, die Einzelanwält:innen das Leben schwer machen und junge Anwält:innen darin hindern, sich selbstständig zu machen, habe ich nicht. Ich brauchte lediglich einen Laptop und ein Smartphone. Ein Kartenlesegerät habe ich zweimal gebraucht, und zu diesen Gelegenheiten habe ich es mir geliehen. Ich nutze nicht einmal eine Kanzleisoftware, weil ich mit dem, was mir mein Mac bietet, alles wundervoll selbst organisieren kann. Die Website habe ich mit der Hilfe eines befreundeten IT-Experten selbst gebaut.
Der größte Gewinn für mich ist aber die Lebenszeit und -qualität, die mir das digitale Arbeiten bietet.
Ich habe schon aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Island, Portugal, England, Ungarn, Australien und Neuseeland gearbeitet. Ich habe bisher keine einzige Stunde im Stau auf der Autobahn verbracht, um zu einem Gerichtstermin zu fahren.
Während ich diese Interviewfragen beantworte, habe ich einen wunderschönen Ausblick auf Berge und einen azurblauen See und sitze in meinem eigenen Wohnzimmer.
Welche Nachteile und Herausforderungen bringt die Digitalisierung mit sich?
Ich sehe die Nachteile oder Herausforderungen der Digitalisierung eher darin, dass die deutsche Justiz mit der Digitalisierung noch nicht so weit ist wie ich. Sicherlich ist es nachvollziehbar, dass es komplexer, teurer und zeitintensiver ist, ein ganzes Rechtssystem mit etablierten Arbeitsweisen umzukrempeln, als eine einzelne Kanzlei digital auszurichten. Leider heißt dies für mich aber, dass jedes Mal, wenn ich einen Gerichtstermin nicht per Videokonferenz wahrnehmen kann, ich mich vertreten lassen muss und dadurch (unnötige) Kosten entstehen.
Wenn ich Urteile in Papierform erhalte, reicht es nicht, dass ich sie einscanne – ich bin gezwungen, sie aufzubewahren, da im Rahmen der Zwangsvollstreckung das Original verlangt wird. Dies klingt für viele Leser sicherlich nach einer Beschwerde auf hohem Niveau, aber die Tatsache, dass es mir oft nicht möglich ist, Gerichtstermine persönlich wahrzunehmen, erschwert es mir zum Beispiel auch einen Fachanwaltstitel zu erlangen.
Auch wenn eine digitale Arbeitsmöglichkeit zur Verfügung gestellt wird, heißt dies nicht, dass damit alle Probleme behoben sind. Das beA ist aus der Sicht einer digital arbeitenden Rechtsanwältin eher eine Hürde als eine Erleichterung.
Für noch traditioneller arbeitende Kolleg:innen sehe ich keine Nachteile, aber durchaus Herausforderungen.
Nichts in unserer Schulausbildung oder im Jurastudium und Referendariat hat mich und meine Generation darauf vorbereitet, digital zu arbeiten. Wir haben uns unsere Kenntnisse selbst erarbeitet und sind jetzt in der Lage, diese auch in unserem Berufsalltag einzusetzen.
Woher sollen diese Fähigkeiten nun bei unseren Kolleg:innen kommen, die nicht rechtzeitig auf den Zug aufgesprungen sind? Es wird erwartet, dass man sich diese Kenntnisse nebenher irgendwie selbst erarbeitet.
Ich denke, es wäre wichtig für all unsere Kolleg:innen, aber besonders für unsere Entscheidungsträger:innen, Möglichkeiten zu schaffen, sich alle notwendigen Fähigkeiten zu erarbeiten, um das volle Potenzial der Digitalisierung ausschöpfen zu können.
Es gibt auf dem Markt immer mehr Anbieter, die digitale Tools für Kanzleien anbieten – da ist es für Anwälte und Anwältinnen gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Welches Tool oder welche Tools sind für Sie die größte Unterstützung im Arbeitsalltag?
Als Einzelanwältin benötigt man quasi keins dieser Tools. Für größere Kanzleien sieht das natürlich ganz anders aus. Ich habe ja auch Kooperationen mit größeren Kanzleien. Zur Kommunikation zwischen Mitarbeitern nutze ich sehr gerne Slack, für digitale Meetings bietet sich GoogleMeet oder Zoom an. Ich habe noch keine Kanzleisoftware und kein Tool, welches spezifisch für Anwälte entwickelt wurde benutzt, welches mich persönlich überzeugt hätte.
Ich rate grundsätzlich dazu, eine VoIP (Voice over IP) mit einem Softphone zu benutzen, wenn man im Ausland arbeiten will. Das heißt, ich habe einen digitalen Telefonanschluss, über den ich via App Zugriff habe, sowohl auf dem Smartphone als auch auf dem Computer. Ich benutze einen digitalen Faxanschluss für Kolleg:innen, die immer noch nicht mit beA zurechtkommen (wollen).
Für meine Steuern benutze ich eine Steuersoftware, Elster ist aber ein überraschend gutes Programm dafür.
Ich habe eine Gesetzes-App, benutze aber meistens dejure oder gesetze-im-internet. Für Kommentare und Artikel Juris oder Beck-Online.
Gibt es noch etwas, dass Sie ergänzen möchten?
Ich möchte vor allem junge Kolleg:innen ermutigen, Selbstständigkeit und digitales Arbeiten als Chance wahrzunehmen. Ich würde selbst gerne Referendar:innen ausbilden und zeigen, was möglich ist, wenn man nicht nur in alten Bahnen denkt und arbeitet, sondern sich traut, über den Tellerrand hinaus zu blicken.
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Bild: Adobe Stock/©cera
Ruth Gutenberg stammt gebürtig aus dem Saarland und hat dort ihr Erstes Staatsexamen abgelegt und ihre Kanzlei gegründet. Parallel zu ihrem Studium hat sie ihren Master of Law with Merit (LL. M.) an der University of Exeter erlangt. Das Referendariat und Zweite Staatsexamen hat sie in Aachen absolviert, wo sie auch ihre Begeisterung für das anwaltliche Arbeiten und das Familienrecht entdeckt hat. Ihr zweiter Kanzleisitz ist in Queenstown, Neuseeland – in einem Büro mit Ausblick auf See und Berge.