online klageverfahren

Digitalisierungsschub im Zivilprozess?

Chancen und Herausforderungen des geplanten Online-Klageverfahrens

Von Prof. Dr. Henning Müller

Während der Gesetzgeber mit den letzten Gesetzgebungsvorhaben im eJustice-Bereich eher den digitalen Status quo weiterentwickelt und Defizite ausgebügelt hatte, schickt er sich mit einem nunmehr vorliegenden Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit tatsächlich zu Innovationen an. Bereits für diesen Schritt erhält er ungewohnt viel Lob in den Stellungnahmen der unterschiedlichsten Verbände. Dieser Beitrag beleuchtet den aktuellen Stand der Digitalisierung in der Justiz und wirft anschließend einen Blick auf die wesentlichen Inhalte des Regierungsentwurfs, sowie die damit einhergehenden Chancen und Herausforderungen – auch mit Blick auf die anstehenden Neuwahlen.

I. Ausgangspunkt: Legal Tech in Justiz und Massenverfahren

Vor allem in der Rechtsanwaltschaft wird die Weiterentwicklung von Legal Tech-Anwendungen besonders interessiert, zuweilen natürlich auch argwöhnisch, stets aber mit großem Interesse beobachtet. Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Automatisierung durch Technikeinsatz kann unternehmerisch ein erheblicher Wettbewerbsvorteil sein; sei es als Start-up-Geschäftsidee, sei es als Alleinstellungsmerkmal, zur Akquise neuer Mandantinnen und Mandanten und anderer Geschäftsfelder oder einfach als Möglichkeit der Gewinnsteigerung in bestehenden Kanzleien.[1]

Massenverfahren bieten großes Potenzial für Digitalisierung

Vor allem die Massenverfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit bieten insoweit ein besonderes Potenzial. Dieses speist sich daraus, dass der Markt durch finanzstarke Großkanzleien dominiert wird, die sich die erforderlichen Anfangsinvestitionen leisten können und ferner dadurch, dass gerade im Banken- und Kapitalmarktrecht, im Versicherungsrecht und hinsichtlich des „Dieselskandals“, aber auch bei Fluggaststreitigkeiten eine ganz besondere Gleichförmigkeit des Sachverhalts und deshalb der Verfahrensabläufe gegeben ist.[2]

Digitalisierung bedeutet hier insbesondere Automation der Tatsachenaufnahme und der Texterstellung. Ein gelungenes „Front-End“ zum (potenziellen) Mandanten oder jedenfalls zum sachbearbeitenden Associate genügt insoweit zur Sachverhaltserfassung, eine teilautomatisierte Bausteinverwaltung inklusive der Textbefüllung durch vorab definierte Variablen generiert den einnahmenerzeugenden Schriftsatzoutput. Gerade im Bereich der Fluggastverfahren kommen Auswertungsalgorithmen auf Big-Data-Basis zum Einsatz, die der Prozessrisikoanalyse bzw. der Einschätzung von Erfolgsaussichten dienen.

Kombiniert mit den Möglichkeiten des elektronischen Rechtsverkehrs, sowie ggf. zusätzlich die technisch simple Einbindung von Homeoffice-Arbeitsplätzen, ergibt sich so eine gewinnmaximierende Arbeitsorganisation, die auf der anderen Seite der Richterbank auf überlastete Amts- und Landgerichte trifft und dort zu einem faktischen Problem der Arbeitsbewältigung wird[3]. Das macht die richterlichen Arbeitsplätze zusätzlich noch unattraktiver; wird dort doch die Richterin oder der Richter nicht selten dazu degradiert, in überlangen Schriftsätzen aus immer gleichen Textbausteinen nach geringfügigen Unterschieden und Besonderheiten zu suchen. Der Mandant profitiert teils durch schlanke, transparente Kostenstrukturen, teils aufgrund von Forderungsabtretungen von der Risikolosigkeit der Rechtsdurchsetzung. Letztlich ist Legal Tech auf dem Anwaltsmarkt deshalb auch ein legitimes Mittel um erleichterten Zugang zum Recht zu erlangen, wo andernfalls Aufwand oder Kosten gescheut würden, oder wo das Wissen um eigene Rechtsschutzmöglichkeiten gar nicht vorhanden wäre.

Digitalisierungsvorhaben in der Justiz

Die Gerichte mühen sich noch, auf diese Entwicklung adäquat zu reagieren. (Jedenfalls) im Zivilrecht viel diskutiert[4] und aktuell sogar pilotiert[5] ist der Vorschlag eines freiwilligen oder sogar erzwungenen strukturierten Parteivortrags. Letztlich ist die Idee, dass das Gericht konkrete Vorgaben zur Art und Weise des Vorbringens der Beteiligten macht, um die Strukturierungsarbeit bereits dorthin zu verlagern. Dies erleichtert in einem ersten Schritt die Durchdringung durch Richterinnen und Richter, in einem digitalen zweiten Schritt aber auch die automatisierte Weiterverarbeitung des Schriftsatzinhalts. Ein strukturierter Parteivortrag lässt es bereits zu, dass die „gewünschten“ Vortragsinhalte durch das Gericht kanalisiert werden, bspw. durch gezielte (automatisierte) Fragestellungen im Rahmen der Tatsacheneingabe. Dies kann sogar durch den Einsatz von Chatbots erfolgen.[6] Das BMJ verfolgt diesen Gedanken auch als sog. „Online-Klagetool“ durchaus konkret im Rahmen von Machbarkeitsstudien, die als Ideengeber fungieren sollen.[7] In der Rechtsanwaltschaft ist das Echo hierauf nicht durchweg positiv.[8]

II. Wesentliche Inhalte des Regierungsentwurfs

Mit der Anfügung eines 12. Buch der Zivilprozessordnung will der Gesetzgeber ein „Reallabor“ schaffen, das der praktischen Erprobung neuer digitaler Technologien, Kommunikationsformen und neuer Verfahrensabläufe dient. Der Anwendungsbereich der Erprobung wird sachlich beschränkt, auf amtsgerichtliche Streitigkeiten auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme. Zeitpunkt und örtlich teilnehmende Amtsgerichte bestimmt das jeweilige Bundesland.

Eine erste wichtige Innovation betrifft die Kommunikation. Die mittlerweile eingespielten Übermittlungswege des § 130a ZPO, allen voran das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) der Rechtsanwaltschaft können selbstverständlich genutzt werden. Endlich traut sich der Gesetzgeber aber auch eine Kommunikationsplattform zu, die in § 1130 ZPO-E näher beschrieben wird. Sie soll der Bereitstellung und sogar der gemeinschaftlichen Bearbeitung elektronischer Dokumente dienen, also eine echte Kollaboration ermöglichen. Sie soll zentral und bundeseinheitlich vom BMJ entwickelt und den Ländern über das Justizportal des Bundes und der Länder bereitgestellt werden.

Vielleicht noch wichtiger ist die auf den ersten Blick unauffällige Regelung in § 1126 ZPO-E. Hiernach kann das Gericht insbesondere anordnen, dass die Parteien ihren jeweiligen Vortrag demjenigen der anderen Partei in digitaler Form gegenüberstellen, und den Parteien die Ergänzung oder Erläuterung ihres Vortrags durch Zuordnung von Eingabefeldern zum jeweiligen Streitstoff aufgeben. Der sog. „strukturierte Parteivortrag“ findet damit erstmals explizit Eingang in das Prozessrecht. Möglich – und darauf basieren ja auch bisherige Pilotierungen des „strukturierten Parteivortrags“ – war ein

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II. Wesentliche Inhalte des Regierungsentwurfs

Mit der Anfügung eines 12. Buch der Zivilprozessordnung will der Gesetzgeber ein „Reallabor“ schaffen, das der praktischen Erprobung neuer digitaler Technologien, Kommunikationsformen und neuer Verfahrensabläufe dient. Der Anwendungsbereich der Erprobung wird sachlich beschränkt, auf amtsgerichtliche Streitigkeiten auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme. Zeitpunkt und örtlich teilnehmende Amtsgerichte bestimmt das jeweilige Bundesland.

Eine erste wichtige Innovation betrifft die Kommunikation. Die mittlerweile eingespielten Übermittlungswege des § 130a ZPO, allen voran das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) der Rechtsanwaltschaft können selbstverständlich genutzt werden. Endlich traut sich der Gesetzgeber aber auch eine Kommunikationsplattform zu, die in § 1130 ZPO-E näher beschrieben wird. Sie soll der Bereitstellung und sogar der gemeinschaftlichen Bearbeitung elektronischer Dokumente dienen, also eine echte Kollaboration ermöglichen. Sie soll zentral und bundeseinheitlich vom BMJ entwickelt und den Ländern über das Justizportal des Bundes und der Länder bereitgestellt werden.

Vielleicht noch wichtiger ist die auf den ersten Blick unauffällige Regelung in § 1126 ZPO-E. Hiernach kann das Gericht insbesondere anordnen, dass die Parteien ihren jeweiligen Vortrag demjenigen der anderen Partei in digitaler Form gegenüberstellen, und den Parteien die Ergänzung oder Erläuterung ihres Vortrags durch Zuordnung von Eingabefeldern zum jeweiligen Streitstoff aufgeben. Der sog. „strukturierte Parteivortrag“ findet damit erstmals explizit Eingang in das Prozessrecht. Möglich – und darauf basieren ja auch bisherige Pilotierungen des „strukturierten Parteivortrags“ – war ein solches Vorgehen schon de lege lata. Die ausdrückliche Erwähnung ist deshalb gar nicht so innovativ, wie sie scheint, dürfte aber selbstredend weiteren Auftrieb bringen.

III. Einschätzung: Chancen und Herausforderungen des Reallabors

Der Erfolg des Vorhabens hängt vor allem davon ab, wie intensiv von den neuen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird. Wie groß – und damit wie „real“ – das Labor am Ende ist, liegt in Länderhand und damit letztlich bei den Landesjustizverwaltungen, die mit knappen Kassen, teils dysfunktionalen eAkten-Lösungen und Personalknappheit zu kämpfen haben. Es bleibt zu hoffen, dass hier flächendeckend das Potenzial im großen Ganzen erkannt und nicht angesichts näherliegender Probleme keine hinreichende Erprobung angegangen wird.

Paradigmenwechsel in der Kommunikation zu begrüßen

Das Paradigmenwechsel in der Kommunikation, weg von der nur digitalisierten Postkutsche, hin zu einem tatsächlich modernen elektronischen Informationsaustausch, ist unbedingt zu begrüßen. Der Teufel dürfte hier aber zunächst wie immer im Detail liegen. Nutzerfreundlichkeit und intuitive Bedienung stehen zwar in ambitionierter Weise bereits im Gesetz. Bisherige bundesweite IT-Entwicklungen in der Justiz stimmen insoweit aber nicht nur optimistisch, zumal die technische Bereitstellung ja auch erstmal erfolgen muss. Zielführend, weil schneller, wäre hier wohl parallel eine technikoffene Ausgestaltung gewesen, um zumindest für einen baldigen Start auf Produkte „von der Stange“ zurückgreifen zu können.

Auffällig ist, wie der Gesetzgeber hinsichtlich der Kommunikation bemüht ist, viel kritisierte alte Zöpfe abzuschneiden. Für den Schriftformersatz spielen elektronische Zertifikate keine Rolle mehr. Dass die Funktionen der herausgehobenen Form, vor allem der Integritätsschutz, damit nicht mehr verkehrsfähig sichergestellt werden, wird nicht diskutiert. Es sind durchaus Konstellationen denkbar, in denen hierdurch später Beweisschwierigkeiten auftreten könnten. Auch das Empfangsbekenntnis wird durch eine Zustellungsfiktion ersetzt. Endlich, meinen sicher weite Teile der Praxis. Skeptisch bleibt indes diesbezüglich die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme, weil hierdurch auch das voluntative Element in der Zustellung an professionelle Verfahrensbeteiligte wegfällt.

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Kritik an § 1127 ZPO-E: Verzicht auf mündliche Verhandlung rechtmäßig?

Breitere Kritik wird am aktuellen Entwurfsstand nur hinsichtlich weniger Aspekte geübt. Problematisch ist vor allem § 1127 ZPO-E, wonach dem Gericht zusätzliche Möglichkeiten eröffnet werden, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Dieser Aspekt des Gesetzesentwurfs betrifft durchaus das Grundrecht auf rechtliches Gehör als Ausprägung des Rechtsstaatsgebots gem. Art. 20 Abs. 3 GG, das durch Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert wird sowie das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Regelung kann zwar in der Notwendigkeit der Entlastung der Gerichte und der Straffung des Verfahrens im Sinne des Beschleunigungsgebots erkannt werden.[9] Ihre Anwendung steht aber im Einzelfall unter Umständen im Konflikt zu einem besonderen Schutzbedürfnis von Verfahrensbeteiligten. Die Funktion und Bedeutung der mündlichen Verhandlung macht sie letztlich zum „Kernstück“ des gerichtlichen Verfahrens. Gleichwohl werden diese Funktionen jedenfalls auch bei Durchführung einer Videoverhandlung erreicht, weshalb es jedenfalls gut vertretbar ist, § 128a ZPO zum Regelfall bei Online-Klageverfahren zu erklären, vgl. § 1127 Abs. 3 ZPO-E. Diese Erwägungen betreffen in gleicher Weise die Beweisaufnahme gem. § 1128 ZPO-E.

Vor allem aber ist zu kritisieren – und dies tut bspw. auch der EDV-GT in seiner Stellungnahme –, dass der Erprobungs- und Evaluierungszeitraum viel zu unambitioniert zu lang bemessen ist. Angesichts der rasanten technischen Entwicklung im Justizumfeld, gerade dem disruptiv zunehmenden Einsatz von Automatisierungslösungen, sowie Künstlicher Intelligenz, ist die erstmalige Betrachtung nach vier Jahren und dann erst nach acht Jahren viel zu spät und dürfte ergeben, dass das „Reallabor“ bis dahin sehr viel Staub angesetzt hat und gegenüber der Realität außerhalb des Labors altbacken wirkt. Es bleibt nur zu hoffen, dass eine Verkürzung des Evaluierungszeitraums noch in Betracht gezogen wird, um die rechtliche Praxis zeitnah an die rasanten Entwicklungen anzupassen.

Chancen auf Umsetzung im Hinblick auf anstehende Neuwahlen

Seit dem 6. November 2024 ist absehbar, dass es in Kürze zu Neuwahlen kommen wird. Die unausweichliche Folge dürfte sein, dass auch das hier besprochene Gesetzgebungsvorhaben der Diskontinuität anheimfällt. Mindestens deutliche Verzögerungen bei der Umsetzung sind deshalb zu erwarten – das Gesetzgebungsverfahren einschließlich des Anhörungsverfahrens wird hierdurch auf „null“ gesetzt. Der Entwurf wird nichtsdestotrotz in der ministeriellen Schublade verbleiben und hoffentlich schnellstmöglich hervorgeholt werden. Auch eine neue Bundesregierung wird die Digitalisierung der Justiz prioritär vorantreiben wollen. Um so wichtiger ist aber der Appell, die Geschwindigkeit zu erhöhen.

Weitere Beiträge

Prof. Dr. Henning Müller ist Direktor des Sozialgerichts Darmstadt, Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg und der Hochschule Ludwigshafen. Zudem ist er Mitherausgeber des "jurisPK-ERV", des beckOKG-SGG und der Zeitschrift "Recht Digital" (RDi), sowie Herausgeber des Blogs ervjustiz.de zum elektronischen Rechtsverkehr und Autor des Fachbuchs "e-Justice-Praxishandbuch".

[1] Vgl. Maschmann, NZA-Beilage 2019, 65 mit einem Bericht zum 33. Passauer Arbeitsrechtssymposium.
[2] Müller, eJustice-Praxishandbuch, 8. Aufl. 2023, S. 26.
[3] Kaufmann, „Flightright wird zum Problem“, Legal Tribune Online v. 14.8.2019.
[4] Köbler, ZRP 2023, 133; Köbler/Herberger, AnwBl 2019, 351; Köbler, AnwBl 2021, 283; Gaier, ZRP 2015, 101; Gaier, NJW 2017, 177; Stryl, NZM 2021, 329; Vogelgesang/Krüger, jM 2020, 90; Müller, eJustice-Praxishandbuch, 8. Aufl. 2023, S. 32.
[5] Bert, AnwBl 2023, 94; Weth, jM 2023, 177.
[6] Sudhof, DRiZ 2021, 362; Biallaß, RDi 2023, 59, 62.
[7] Müller, in: jurisPK-ERV § 65a SGG Rn. 471 ff.
[8] Vgl. hinsichtlich des Für- und Widers Gutdeutsch/Maaß, NJW 2022, 1567.
[9] Vgl. BeckOGK/Müller, 1.8.2024, SGG § 105 Rn. 2.
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