Von Dr. Jan-Michael Rädecke, LL.M.
In der modernen Rechtswelt sind Massenverfahren zu einem festen Bestandteil geworden. Sie demokratisieren unsere Rechtsprechung, machen sie zugänglicher, aber zugleich auch komplexer. Die Vor- und Nachteile sowohl für die Mandantschaft als auch für die Anwaltschaft reichen weit. In diesem Beitrag möchte ich für ein tieferes Verständnis der Vor- und Nachteile von Massenverfahren werben, um die Tragweite der Chancen von Legal Tech aufzuzeigen und ein differenziertes Bild des Zusammenspiels von Legal Tech und Massenverfahren zu schaffen.
Der Mensch hinter der Nummer und finanzielle Hürden
Einer der größten Kritikpunkte an Massenverfahren ist das Gefühl der Depersonalisierung: Der Mensch sucht nach Individualität und Personalisierung, auch in rechtlichen Belangen. Modernste Legal Tech-Lösungen sind jedoch darauf ausgerichtet, trotz Massenbearbeitung den individuellen Mandanten nicht aus den Augen zu verlieren. Persönliche Beratung, Chatbots, personalisierte Kundenportale und KI-basierte Beratungssysteme können dem Mandanten das Gefühl geben, wertgeschätzt und individuell betreut zu werden. Zugleich ist die effiziente Bearbeitung der Fälle in der Masse gewährleistet.
Viele Mandantinnen und Mandanten ohne Rechtsschutzversicherung zögern, gegen vermeintlich „übermächtige“ Gegner vorzugehen – besonders, wenn die Streitwerte niedrig sind. Denn bei einer Einzelklage übersteigen die Kosten schnell den erzielbaren Nutzen. Aber gerade hier zeigt sich ein klarer Vorteil von Massenverfahren: Durch ihre Größe können sie Prozesskostenfinanzierer anlocken (also Unternehmen, die die finanziellen Kosten eines Rechtsstreits für Kläger oder Klägerin übernehmen), weil sie das Potenzial eines positiven Ausgangs sehen. Für den einzelnen Mandanten ist dies eine echte Alternative.
Gegenüber großen Gegnern, wie Social-Media-Konzernen oder Fluggesellschaften, fühlen Mandantinnen und Mandanten sich oft machtlos: Wie soll eine Einzelperson überhaupt Gehör bei einem Großkonzern finden? Für viele Mandanten und Mandantinnen stellt es sich dar, wie im Kampf David gegen Goliath. Aber: David hat Goliath besiegt. Was Mandanten und Mandantinnen im Rechtsstreit mit Konzernen aber oft fehlt, ist das Wissen über ihre Rechte. Sie können ihre Ansprüche geltend machen, auch wenn es sich scheinbar nur um geringe Beträge handelt.
Hier kommt ein weiterer Teilbereich der Legal Tech ins Spiel: Online-Marketing. Durch gezielte Kampagnen lassen sich viele Verbraucher erreichen – das konnten wir beispielsweise an den in der Vergangenheit entstandenen gerügten Datenschutzverstößen wie bei Facebook/Meta und Co. sehen. Bei Meta ereignete sich der gerügte Datenschutzverstoß im Jahre 2019. Doch erst im Jahre 2021 wurde dieser öffentlich bekannt und die Nutzer und Nutzerinnen durch gezielte Informationskampagnen darauf aufmerksam gemacht.
Automatisierung in Kanzleien: Wie effizient wird die Zukunft?
Kanzleien, die in der Welt der Massenverfahren agieren, nutzen modernste Technologien, um Mandantenanfragen effizient und qualitativ hochwertig zu bearbeiten. Hierbei wird nicht nur der Arbeitsaufwand reduziert, sondern auch die Fehlerquote. Digitalisierte Workflows, KI-unterstützte Dokumentenprüfung, automatisierte Mandantenkommunikation, Algorithmen zur Überprüfung von Ansprüchen und andere Tools ermöglichen es, komplexe Vorgänge zu standardisieren und gleichzeitig individuelle Aspekte eines Falles zu berücksichtigen. So lohnen sich auch Fälle mit – vergleichsweise – geringem Streitwert, wie beispielsweise die Klage gegen Eventim, bei der der Tickethändler zwischen sechs und 20 Prozent des Ticketpreises bei abgesagten Konzerten einbehält. Mit einem üblichen Stundensatz eines Rechtsanwalts würde dieses Verfahren für Mandanten und Mandantinnen unattraktiv. Für fallspezifische Prozesskostenfinanzierer sind Massenverfahren jedoch eine wirtschaftliche Chance und ein eigenes Geschäftsmodell.
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„Künstliche Intelligenz in der Justiz“
Legal Tech als Katalysator für den Wandel in der Rechtsbranche
Massenverfahren, unterstützt durch Legal Tech, sind zweifellos ein disruptives Element in der Rechtsbranche. Sie bringen sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich. Meine Erfahrung im German Legal Tech Hub (GLTH) hat mir gezeigt, wie Legal Tech als Katalysator für den Wandel in der Rechtsbranche dient. Die Technologie ermöglicht nicht nur effizientere Arbeitsweisen, sondern auch eine engere Mandantenbindung durch bessere Kommunikation und effizientere Fallbearbeitung. Es liegt an uns – den Anwälten und Anwältinnen, den Mandantinnen und Mandanten und den Akteuren des Justizapparats – diese neue Ära zu gestalten, zu navigieren und sicherzustellen, dass sie den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht wird. Wir haben es in der Hand, „Pain Points“ zu lindern und unsere Mandanten und Mandantinnen modern und effizient zu vertreten. Das Potential ist riesig, aber es erfordert Weitsicht, Anpassungsfähigkeit und vor allem Integrität, um es voll auszuschöpfen.
Hatten Sie in den 1990er Jahren ein Modem zu Hause stehen? Die frühen Internet-User haben sich (zu Recht) darüber beschwert, dass die Verbindungen nur langsam aufgebaut wurden und dazu auch noch teuer waren. Und es gab – ebenfalls zu Recht! – Befürchtungen, dass die klassischen Medien und der Einzelhandel unter dem Aufstieg digitaler Angebote und Online-Shops leiden würden. Keiner dieser sogenannten „Nachteile“ hat das Internet bremsen können.
Anstelle der „Nachteile“ von Legal Tech möchte ich dafür plädieren, dass wir von „Herausforderungen“ sprechen – oder, wenn Sie es auch lieber technisch als laienpsychologisch mögen: Progress in progress.
Nahezu grenzenlose Chancen auf Mandanten- und Rechtsanwaltsseite
Das Zusammenspiel von Legal Tech und Massenverfahren ist komplex und, wie ich finde, wundervoll. Die Chancen, die sich hier auf Mandanten- und Rechtsanwaltsseite auftun, sind beinahe grenzenlos. An dieser Stelle spielt der German Legal Tech Hub eine entscheidende Rolle, da er innovative Technologien fördert und ein breites Netzwerk von Akteuren im Bereich Legal Tech und dem Rechtswesen zusammenführt. Gemeinsam können wir diese Chancen nutzen und sicherstellen, dass die moderne Rechtsprechung den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht wird.
Bild: Adobe/elenabsl
Seine Fachanwaltstitel hat Dr. iur. Jan-Michael Rädecke, LL.M. im Bank- und Kapitalmarktrecht und im Steuerrecht erworben. Aber sein Herz schlägt für die Digitalisierung der Rechtsbranche und innovative Lösungen. Mit einem Master in Legal Tech hat Dr. Rädecke sich als Experte für dieses Thema beim GLTH spezialisiert.