Von Simon Reuvekamp
In Zeiten von EGVP, beA, beN, und DSGVO scheint es mehr als überfällig, dass Kanzleien sich mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen. Und doch ist die Realität ernüchternd, denn die meisten verfolgen keine aktive Digitalisierung. Stattdessen „passiert“ Digitalisierung in der Regel durch externe Einflüsse erzwungen. Entsprechend halbherzig erfolgt die eigene Umsetzung. Als nahezu unausweichliche Folge ergeben sich in der Regel zwei Erlebnisse: Zum einen bleiben die Ergebnisse der Umsetzung weit hinter den Möglichkeiten zurück. Zum anderen steigt der Unmut über die extern auferlegten Änderungen. Erfahren Sie in diesem Beitrag, wie Sie es besser machen können.
Wer nun erwartet, an dieser Stelle einen allgemein gültigen Zehn-Punkte-Fahrplan für die Digitalisierung von Kanzleien zu erhalten, wird enttäuscht sein. Alle Ratgeber, die derartiges versprechen, sind so erfolgversprechend wie die neueste Wunderdiät in der Klatschpresse.
Digitalisierung kostet Geld
Wie Sie Ihre Kanzlei auf die Anforderungen der digitalisierten Zukunft vorbereiten, ist – wie so oft im Leben – eine Frage gesunden Menschenverstandes, der richtigen Planung und leider auch harter Arbeit. Bei der Digitalisierung kommt jedoch noch ein weiterer Punkt hinzu: Digitalisierung kostet Geld! Bei guter Umsetzung kann man dieses Geld ggf. an anderer Stelle später wieder einsparen. Zunächst aber müssen Sie Geld investieren. Doch dazu später mehr.
1. Wo stehe ich in puncto Digitalisierung? Schonungslose Bestandsaufnahme!
Um seine Strategie zu entwickeln, hilft es, zunächst einmal selbst zu analysieren und festzuhalten, wo man derzeit steht. Dieser Prozess muss bitte schonungslos betrieben werden. Es bringt hier überhaupt nichts, die Wahrheit durch eine rosa Brille zu betrachten. Wenn Ihre EDV aus dem letzten Jahrzehnt stammt, dann sollten Sie wissen, dass Sie Abläufe damit langfristig nicht erfolgreich digital abbilden können. Wenn Ihr Personal nicht in der Lage oder willens ist, neue digitale Funktionen sicher auszuführen, dann gehört das auf die Aufgabenliste. Und wenn Sie sich als Kanzleioberhaupt nicht vorstellen können, mit einem mobilen Computer zu Gericht zu gehen, dann wird die Umsetzung schwierig, denn Digitalisierung endet nicht im Vorzimmer!
Mandantenbeziehung ist Kundenbeziehung
Viele Kanzleien vergessen an dieser Stelle den Kunden. Ja, ich wähle an dieser Stelle diesen Begriff in der absoluten Überzeugung, dass Ihre Mandanten Ihre Kunden sind. Sie erbringen eine Dienstleistung und bieten diese potenziellen Kunden an. Dieser entscheidet, ob er Ihre Dienstleistung in Anspruch nehmen möchte oder den Kollegen an der Ecke oder stattdessen ein Internetportal beauftragt. Hat sich der Kunde für Sie entschieden, wird Ihre erbrachte Leistung darüber entscheiden, ob er Sie in Zukunft wieder beauftragen wird oder Sie in der Realität oder Online-Welt schlecht bewertet. Also lösen Sie sich bitte von der veralteten Sichtweise, dass Anwalt und Mandant etwas anderes sind als Dienstleister und Kunde.
Es ist Ihre Aufgabe, zu analysieren, wer Ihre Kunden sind und wo sie auf Sie aufmerksam werden. Wissen Sie dies, oder haben Sie nur ein Bauchgefühl? Letzteres wird nicht ausreichen. Ein Unternehmen, das seine Zielgruppe nicht kennt, kann nicht aktiv neue Kunden ansprechen. Ich weiß aus manchen Kanzleien, dass hier akribisch erfasst wird, wo das Mandat herkam. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies in der EDV oder einer Strichliste geschieht. Ich kann nicht genug betonen, dass die Analyse Ihrer potenziellen Zielgruppe ein wesentliches Element Ihrer Strategie sein muss.
2. Wohin wollen Sie? Ziele für die Kanzleistrategie festlegen
Es ist eine allgemeine Lebensweisheit: Wenn Sie kein Ziel haben, können Sie es auch nicht erreichen. Dies belegen auch genügend Studien. Menschen mit konkreten Zielen sind erfolgreicher als Menschen ohne Ziel. Etwas weniger bekannt ist, dass schriftlich fixierte Ziele nochmals effektiver in der Umsetzung sind. Daher mein klarer Apell: Formulieren Sie Ihre Ziele schriftlich.
Über den Begriff „Zieldefinition“ oder „Zielerreichung“ gibt es unzählige Bücher. Daher möchte ich hier nur auf die zwei für mich wichtigsten Punkte eingehen – das „Warum?“ und das „Wie?“.
Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein
Wenn Sie die Abläufe in Ihrer Kanzlei digitalisieren wollen, weil dies der Zeitgeist vorgibt, dann können Sie an dieser Stelle den Artikel zur Seite legen und so weiter machen wie bisher. Sie werden die Zeit, die Anstrengungen und die Investitionen, die eine erfolgreiche Digitalisierung erfordern, nicht aufbringen. Wenn Sie aber auf die Frage „Warum?“ mit absoluter Überzeugung feststellen, dass es der einzige Weg ist, wie Ihre Kanzlei in fünf oder zehn Jahren noch erfolgreich am Markt bestehen kann, machen Sie mit dem „Wie?“ weiter.
Das „Wie“ beschäftigt sich nun mit allen in Ihrer Bestandsaufnahme erfassten Punkten und wie Sie diese ändern müssen, damit Sie am Ende Ihr zuvor festgelegtes Ziel erreichen. An dieser Stelle ist, wie schon zuvor, schonungslos zu fixieren, wie Sie die Organisation, das Personal und insbesondere auch sich selbst auf dieses neue Level heben wollen. Wenn Sie beispielsweise ohne Ihre Papierakte nicht leben können und wollen, dann wäre auch hier das Ende Ihrer Digitalisierungsstrategie erreicht.
3. Was ist Ihr Geschäftsmodell?
Nachdem das „Wie“ und „Warum“ geklärt ist und Sie immer noch auf Kurs in Richtung Digitalisierung sind, kommt wieder der Kunde ins Spiel. All das macht natürlich keinen Sinn, wenn die Kundschaft nicht mitspielt. Aus Punkt 1 kennen Sie Ihre Kundschaft und vielleicht haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt: „Kann ich mit diesen Kunden meine Zukunft gestalten?“ In meiner Zeit im Vertrieb habe ich oft den folgenden Vorwand gegen neue Technik gehört: „Dafür sind unsere Mandanten zu alt.“ Ich musste dann immer dem Impuls widerstehen, um ganz einfach zu fragen: „Und wie wollen Sie dann in fünf oder zehn Jahren Geschäfte machen, wenn Ihre alten Mandantinnen/Mandanten gestorben sind?“ Tatsächlich habe ich über die Jahre mehr als einmal erlebt, wie Kanzleien langsam mit den Mandanten gestorben sind. Auch hier eine allgemeine Weisheit oder besser gesagt sogar ein Naturgesetz: „Alles was nicht wächst, stirbt.“
Hat Ihre Kanzleistrategie Zukunft?
Auf der anderen Seite konnte ich miterleben, wie sich Kanzleien durch eine Vision und eine klare Strategie der Kanzleileitung binnen kurzer Zeit erstaunlich schnell und erfolgreich entwickelt haben. Und damit meine ich explizit nicht die ganz großen Kanzleien mit mehreren hundert Arbeitsplätzen, sondern vor allem kleine Kanzleien mit weniger als zehn Arbeitsplätzen, die sich mit einem durchdachten Geschäftsmodell von der Masse abgesetzt und erfolgreich im Markt durchgesetzt haben.
In der Analyse dieser Kanzleien ist festzuhalten, dass die EDV und die Digitalisierung der Prozesse dabei niemals das eigentliche Ziel war. Sie waren lediglich Mittel zum Zweck. Nun kommt aber der entscheidende Punkt: Auch wenn die EDV nur das Mittel war, so war der kompromisslose Einsatz der Technik der Auslöser für einen Boom der Mandate und damit des wirtschaftlichen Erfolges.
Schon in den 1990er Jahren konnte ich Kanzleien dabei begleiten, durch Automatismen im Inkassobereich tausende von Akten im Jahr mit einem relativ kleinen Team abzuwickeln. In der heutigen Legal Tech-Welt gibt es viele Anbieter, die sich ähnliche Ansätze zu Nutze machen. Das Prinzip ist immer ähnlich: Durch Automatisierung werden manuelle Prozesse beschleunigt.
Halten Sie Ihre EDV up-to-date
An dieser Stelle komme ich noch einmal auf die Kosten der EDV zurück. Sie müssen bei Ihrer Digitalisierungsstrategie immer im Auge behalten, dass digitale Abläufe auch digitale Produktionsmittel voraussetzen. Deren Verfügbarkeit ist dann das absolute Kernelement Ihrer Tätigkeiten. Wenn keine Papierakte da ist, muss das digitale Äquivalent hochgradig verfügbar sein. Dies verlangt ständige Investitionen in Hardware, Software und Wartung. Die Idee, eine Hardware und Software zu kaufen und dann zehn Jahre problemlos nutzen zu können, ist eine Utopie des letzten Jahrhunderts. Laufende EDV-Kosten gehören in jede Budgetrechnung.
Das viele Kanzleien diesen permanenten Druck abgeben möchten, resultiert in einer steigenden Nachfrage von Cloud-Anwendungen, bei denen der Lieferant viele dieser Aufgaben übernimmt. Das muss nicht unbedingt günstiger sein als die EDV selbst vor Ort zu unterhalten, weil in den meisten Fällen in den monatlichen Gebühren die Kosten für Anschaffung, Wartung etc. eingepreist sind. Der Vorteil dieser Anbieter liegt darin, dass in der Kanzlei das EDV Know-how nicht aufgebaut und unterhalten werden muss. Für andere Kanzleien ist es wiederum Teil des Geschäftsmodells, eben diese Expertise im eigenen Haus zu haben. Auch hier gibt es also keinen Königsweg, sondern immer nur den Weg, der am besten zu Ihrer Strategie passt.
4. Welche Art von Legal Tech brauche ich für meine Kanzlei?
Legal Tech wird fälschlicherweise oft nur mit künstlicher Intelligenz (z. B. IBM Watson) oder den neuen Entwicklungen der Startup-Szene in Verbindung gebracht. Legal Tech sind grundsätzlich alle Systeme, die einer Kanzlei dabei helfen, ihre juristischen Dienstleistungen effektiver, kostengünstiger und schneller erbringen zu können. Dies können auch Werkzeuge sein, die nicht unbedingt für den Einsatz in einer Kanzlei entwickelt wurden. So kann beispielsweise der Einsatz einer Software zur Texterkennung einen Vorteil gegenüber der papierbezogenen Handhabung bedeuten.
Es kommt immer auf Ihren aktuellen Ausgangspunkt an. Das beste Wissensmanagementsystem hilft überhaupt nicht, wenn Akten nur in Papier existieren. Machen wir uns nichts vor. In vielen Kanzleien ist Legal Tech eine klassische Kanzleisoftware, wie es sie schon seit den 90er-Jahren gibt. Insofern steht Ihnen heute ein bunter Strauß an Programmen und Dienstleistungen zur Verfügung, mit denen Sie Ihr Geschäft positiv entwickeln können. Welche die richtige Lösung für Sie ist, ist hochgradig individuell.
Wählen Sie Ihre Technologie mit Bedacht und geben Sie die Richtung vor
Wenn Sie Ihre Ziele evaluiert haben, sind eine entsprechende Marktbetrachtung und der anschließende Besuch einer Messe der nächste Meilenstein. Dort können Sie sich in einem kurzen Zeitrahmen einen Überblick über die Produkte verschaffen, die Sie auf Ihrem Weg unterstützen können. Wichtig ist an der Stelle der Hinweis, dass Sie die Auswahl der Produkte nicht primär Ihrem Personal überlassen sollten. Die Auswahl muss sich unbedingt an Ihrer Zieldefinition orientieren und nicht an den Vorkenntnissen der Anwender, die ggf. lieber ein bekanntes Produkt auswählen, anstatt sich mit Neuem beschäftigen zu müssen.
Denken Sie bei der Auswahl auch wieder an Ihre Kunden, denn diese haben durch die Erfahrungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen neue Anforderungen an Sie als Dienstleister entwickelt und sind es gewohnt, schnell und praktisch zu jeder Tageszeit auf Dienstleistungen aller Art zurückgreifen zu können oder sich zumindest darüber informieren zu können. Wie erfolgreich Sie in Zukunft sind, wird sich vor allem daran orientieren, wie Sie diesem geänderten Anspruch entgegentreten können. Hier wird Legal Tech eine entscheidende Rolle spielen.
Digitalisierung heißt auch Mut zu Fehlern
Noch ein Wort zum Abschluss: Digitalisierung ist ein ständiger und laufender Prozess. Sie können nicht erwarten, dass alles sofort zu 100 Prozent funktioniert! Es werden Fehler passieren und Sie müssen die Fehler analysieren und korrigieren. Haben Sie Mut. Starten Sie und werden Sie mit jedem Tag besser. Wenn Sie warten, bis ein EDV-Prozess in jedem Bereich hundertprozentig sicher funktioniert, werden Sie bis in alle Ewigkeit warten, während andere auf der Überholspur an Ihnen vorbeifahren.
In dem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der Umsetzung Ihrer Digitalisierungsstrategie!
Foto: Adobe.stock/© wutzkoh
Simon Reuvekamp ist CTO bei Meyer-Köring mit Sitz in Bonn und Berlin. Seit 1990 berät er als Spezialist für Kanzleisoftware und Diktiersysteme Rechtsanwaltskanzleien. Seit 2019 leitet er die IT-Abteilung der Kanzlei mit 90 Mitarbeiter:innen. Die Kanzlei setzt einen eindeutigen Fokus auf den Einsatz von IT. Hierzu zählen diverse Produkte von der klassischen Kanzleisoftware bis hin zu RPA-Anwendungen zur Prozessautomatisierung.