Legal Tech global

Legal Tech global – drei Länder, von denen wir uns etwas abschauen können

Von Dr. Benedikt QuarchTianyu Yuan und  Jasmin Kröner

Deutschland hängt in Sachen Digitalisierung hinterher. Auch wenn die Ampel-Koalition sich einiges vorgenommen hat, schadet es nicht, über die Ländergrenzen hinauszuschauen, und sich vor Augen zu führen, wie weit andere Länder in Sachen Legal Tech und Digitalisierung der Justiz schon sind. In diesem Beitrag sollen deshalb drei Länder genauer unter die Lupe genommen werden – und als Inspirationsquelle dienen: Estland, China und Singapur.

Estland: Niedrige Verfahrensdauer trotz steigender Fallzahlen

Im europäischen Vergleich gilt insbesondere Estland als Vorreiter für den digitalen Staat. Bereits seit vielen Jahren treibt das Land die Digitalisierung (nicht nur) seines Justizsystems mit großen Schritten voran. Die estnischen Vorstöße im eGovernment haben sich in vielen Bereichen durchgesetzt: Vom digitalen Wählen, über Subventionsanträge und deren Überprüfung in der Landwirtschaft, bis hin zu einem System zum Matching von Arbeitssuchenden und Jobangeboten.

Seit dem Jahr 2005 verwendet Estland mit „e-File“ ein zentrales Informationssystem, das einen Überblick über Gerichtsverfahren ermöglicht. [1]  Daneben dient „e-File“ als Schnittstelle zum Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten eines Gerichtsprozess. Dies hat zur Folge, dass sämtliche Informationen zum Verfahren lediglich einmalig in das System eingepflegt werden müssen und anschließend allen Beteiligten elektronisch zur Verfügung stehen. Zudem werden mit dem Gerichtsorganisationssystem KIS seit 2006 alle Gerichtsverfahren elektronisch erfasst und organisiert.[2]

Weitergehend hat Estland ein Centre of Registers and Information Systems gegründet, das dem Justizministerium untersteht und daran arbeitet, ganzheitliche Online-Services zur Umsetzung und Durchführung der staatlichen Verwaltung und Rechtspolitik bereitzustellen. [3] Eines der neueren Pilotprojekte des baltischen Staates ist die Entwicklung eines „robot judge“. Der „robot judge“ soll – so wird berichtet – in der Lage sein, eigenständige Entscheidungen für Streitigkeiten unter 7000 Euro zu treffen. [4] Den Parteien bliebe allerdings auch bei einer Entscheidung durch den „robot judge“ stets die Möglichkeit, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Ihr Rechtsschutz wird durch den Einsatz künstlicher Intelligenz somit nicht gemindert. Über die Berufung müsste sodann ein menschlicher Richter bzw. eine Richterin urteilen. [5]

Dieses Pilotprojekt stellt einen weiteren Schritt der bereits umfangreichen Digitalisierung der estnischen Justiz dar. Das Land konnte ein hochmodernes Gerichtssystem etablieren, indem es konsequent auf die Entwicklung und Einbindung von technischen Hilfsmitteln in der Rechtsprechung setzte. Die Vorteile des Systems zeigen sich unter anderem daran, dass die Zahl der Richterinnen und Richter in den vergangenen 20 Jahren gleichblieb, obwohl sich die Fallzahlen in dieser Zeit verdoppelt haben. Das estnische Justizsystem bleibt trotz der Mehrbelastung weiter effizient und die durchschnittliche Verfahrensdauer in Estland ist die zweitniedrigste in Europa. [6] Daneben können durch den eingeschlagenen Weg der Digitalisierung zusätzliche Kosten eingespart werden. Die estnische Rechtsprechung erweist sich als eines der günstigsten Rechtssysteme in der Europäischen Union mit einem der niedrigsten Pro-Kopf-Budgets. [7]

Im Ergebnis entpuppt sich der nordbaltische Staat Estland damit als ein globaler Vorreiter der Digitalisierung.

China: Durch Kooperation von Justiz und Legal Tech-Unternehmen zu mehr Zugang zum Recht

Wie auch sonst in Sachen Digitalisierung schreitet in China Legal Tech schnell voran. Besonders augenfällig ist, dass dabei der chinesische Staat eine Vorreiterrolle einnimmt und mit hoher Geschwindigkeit und Experimentierfreudigkeit Digitalisierungsprojekte durchführt, die einen besseren Zugang zum Recht gewährleisten. So existiert auf dem Justiz-Serviceportal des chinesischen Justizministeriums bereits seit einigen Jahren die Möglichkeit, eine sog. „Intelligente Rechtsberatung” in Anspruch zu nehmen. Dahinter stehen Programme, die mit Flightright oder wenigermiete.de vergleichbar sind und Rechtssuchenden digitale Beratungsleistungen für etliche Rechtsgebiete von Familiensachen bis zu Strafsachen anbieten. Nur wird diese Möglichkeit unmittelbar von der Justiz bereitgestellt und nicht durch privatwirtschaftliche Akteure.

Seit mehreren Jahren vielfach genutzt wird auch die Möglichkeit, Klage per App einzureichen. Dazu haben das oberste chinesische Volksgericht – vergleichbar mit dem BGH – und ein Legal Tech-Unternehmen zusammen eine Erweiterung namens „Weisu” (übersetzbar mit „elegant klagen”) für die fast von allen Chinesen und Chinesinnen genutzte Multifunktions-App WeChat entwickelt. Mit Weisu können Zivilprozesse von der Einreichung der Klageschrift und dem darauffolgenden Schriftwechsel bis zur Wahrnehmung von Gerichtsterminen über eine Videochat-Funktion durchgeführt werden. Was digitale Gerichtsverfahren anbelangt, sammelt China bereits seit 2017 Erfahrungen. Den Start machten sog. „Internetgerichte”, die insbesondere für Streitigkeiten aus E-Commerce-Transaktionen zuständig sind. Diese können über eine digitale Gerichtsplattform angerufen werden und das gesamte Verfahren wird digital durchgeführt. Bisher haben die Internetgerichte 118.000 Verfahren aufgenommen und 88.000 erledigt. Dabei konnte im Durchschnitt die Arbeitszeit pro Verfahren um 60 Prozent und die Verfahrensdauer um 50 Prozent reduziert werden.

Auch im Bereich der Privatwirtschaft entwickelt sich Legal Tech in beachtlichem Maße. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der chinesische Staat im Bereich der Justiz auf Open Big Data und Künstliche Intelligenz setzt. So stellt die Justiz ihre „China Judgments Online” Entscheidungsdatenbank mit über 80 Millionen Entscheidungen (vergleichbar mit Juris) für alle frei zugänglich zur Verfügung und es existieren Schnittstellen, damit Legal Tech-Unternehmen komfortabel die Daten nutzen können. Davon profitieren Legal Tech-Unternehmen wie „Bestone”. Das 2006 gegründete Unternehmen hat eine Streitbeilegungsplattform entwickelt, über die bereits über 22 Millionen Verfahren abgewickelt wurden. Dabei verfügt die Plattform insbesondere auch über Schnittstellen zu Behörden und Gerichten, sodass Prozesse effizient durchgeführt werden können. Über die Bestone-Plattform bieten über 3.000 Kanzleien und 40.000 Anwält:innen ihre Leistungen an.

Während die Entwicklungen in China in einigen Bereichen warnende Beispiele sind, gilt das weniger in Sachen Legal Tech und Digitalisierung in der Rechtsbranche. Besonders positiv ist, dass gerade der Staat mit gutem Beispiel vorangeht und proaktiv die Digitalisierung fördert, um einen schnelleren, komfortableren und günstigeren Zugang zum Recht zu ermöglichen.

Singapur: Drakonische Urteilsverkündungen über Zoom – aber Vorreiter bei Handelsstreitigkeiten

Die Weltbank untersucht seit geraumer Zeit, wie lange es dauert, bis Unternehmen ihre Handelsstreitigkeiten in erster Instanz vor einem örtlichen Gericht klären lassen können.[8] Während das in einigen Ländern von der Einreichung bis zur Vollstreckung eines Urteils im Durchschnitt mehr als 900 Tage dauert, liegt Singapur mit durchschnittlich 164 weit vorne. Zum Vergleich: In Deutschland dauert ein solcher Prozess im Durchschnitt 499 Tage.

Der Stadtstaat treibt seit einigen Jahren die Etablierung von future ready courts erfolgreich voran und möchte durch diese Bestrebungen insbesondere auch China hinterhereifern. So wurde im Juli 2017 das Community Justice and Tribunals System eingeführt, durch das die Online-Einreichung von Ansprüchen sowie digitale Verhandlungen ermöglicht werden. Pro Jahr wurden über das System seitdem im Durchschnitt 10.000 Klagen online eingereicht.[9] Die Corona-Pandemie beschleunigte das Tempo der Digitalisierung einmal mehr: Ab Frühling 2020 wurden zunächst alle Anhörungen in Zivilsachen vor den staatlichen Gerichten per Videokonferenz durchgeführt.[10] Es folgten die Familien- und Jugendgerichte. Auch Schuldgeständnisse und Verurteilungen von jugendlichen Straftätern und Straftäterinnen wurden ab dem 30. März per Zoom-Videokonferenz abgehalten.

An Verhandlungen durften im Zuge der Pandemie nie mehr als zwei Anwälte, bzw. Anwältinnen oder Prozessbeteiligte pro Partei teilnehmen - es sei denn, das Gericht hatte eine Ausnahmegenehmigung erteilt.

Auch für die Vorbereitung kommender Generationen auf sich ändernde berufliche Anforderungen im Zuge der Digitalisierung wappnet sich der Stadtstaat – durch die Schaffung von Doppelstudiengängen und Aufbaustudiengängen. Zum Curriculum gehören hier Themen wie Blockchain, Kryptowährungen und Künstliche Intelligenz im Recht.

Die Technikaffinität der Singapurer steht jedoch im krassen Gegensatz zu teils drakonischen Gesetzen: Im Zuge der Corona-Pandemie zog der Stadtstaat in der internationalen Presse insbesondere negative Aufmerksamkeit auf sich, als im Frühjahr 2020 zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Mann namens Punithan Genasan für seine Rolle in einer Herointransaktion über Zoom zum Tode verurteilt wurde.[11]

Fazit: Von guten Ideen endlich zur Implementierung?

Während die Legal Tech-Szene in Deutschland zu florieren scheint, jedes Jahr spannende Veranstaltungen zum Thema stattfinden, und die Richterschaft wertvolle Ideen dazu liefert, wie Prozesse bürgerfreundlicher und effizienter gestaltet werden können, zeigt die Beschäftigung mit den ausgewählten Ländern: Gute Gedanken müssen irgendwann auch in die Tat umgesetzt werden.

Zugegeben: Einige in diesem Artikel unter die Lupe genommenen Staaten haben andere Regierungssysteme – und das ist auch einer der Gründe, warum Entscheidungen dort oft schneller in die Tat umgesetzt werden können. Als Vorbilder in Sachen Legal Tech können Sie uns trotzdem dienen.

[1] ec.europa.eu/cefdigital/wiki/display/CEFDIGITAL/2019/07/29/Estonian+e-File+system.
[2] rik.ee/en/international/court-information-system.
[3] rik.ee/en/international/cept.
[4] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Künstliche Intelligenz in der Justiz, 2021, S. 7; Quarch, Die Bedeutung von Daten für die Geltendmachung von Verbraucherrechten im Legal Tech-Zeitalter,  lrz.legal/images//pdf/Die_Bedeutung_von_Daten_fr_die_Geltendmachung_von_Verbraucherrechten_im_LegalTech-Zeitalter__.pdf.
[5] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Künstliche Intelligenz in der Justiz, 2021, S. 7; Deutschlandfunk Nova, KI-Richter in Estland fällt Urteile per Algorithmus, 2019, deutschlandfunknova.de/beitrag/digitalisierung-ki-richter-in-estland-faellt-urteile-per-algorithmus.
[6] CEPEJ, European judicial systems – Efficiency and quality of justice No. 26, S. 26, https://rm.coe.int/rapport-avec-couv-18-09-2018-en/16808def9c.
[7] CEPEJ, European judicial systems – Efficiency and quality of justice No. 26, S. 237 ff., rm.coe.int/rapport-avec-couv-18-09-2018-en/16808def9c.
[8] doingbusiness.org/en/data/exploretopics/enforcing-contracts
[9] govinsider.asia/digital-gov/inside-singapores-move-to-virtual-court-hearings/
[10] channelnewsasia.com/singapore/court-hearings-video-conference-covid19-1324901
[11] bbc.com/news/technology-52739676
Foto: Adobe Stock/©ipopba
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Dr. Benedikt M. Quarch, M.A., geboren 1993 in Aachen, studierte Rechts- und Wirtschaftswissen-
schaften in Wiesbaden und Montréal. Ende 2016 schloss er den Master in Betriebswirtschaftslehre ab. Benedikt Quarch ist seit 2017 Co-Founder und Geschäftsführer der RightNow Group, eines international agierenden Legal Tech-Unternehmens aus Düsseldorf.

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RA Tianyu Yuan studierte Robotik und Rechtswissenschaft. Als Jurist war er für mehrere führende internationale Wirtschaftssozietäten in Europa und Asien tätig. Er ist Mitgründer und Geschäftsführer des Legal Tech-Startups LEX superior und des Technologie-Startups Codefy. Als Dozent der Zusatzqualifikation „Legal Tech“ bildet er in Baden-Württemberg Rechtsreferendare aus.

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Jasmin Kröner ist beim FFI-Verlag in den Bereichen Produkt-
management und Redaktion tätig.

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