Die digitale Kanzlei Pottgiesser & Partner arbeitet bereits seit geraumer Zeit komplett papierlos und genießt die Vorteile des ortsunabhängigen Arbeitens. Wie die Digitalisierung in einer Kanzlei mit vielschichtigem Beratungsangebot und wenig standardisierten Prozessen gelingt, und wie die Mandantschaft auf die virtuelle Mandatsführung reagiert, verrät Kanzleiinhaber Cornel Pottgiesser im Interview.
Herr Pottgiesser, wann haben Sie damit begonnen, Ihre Kanzlei von analog auf digital umzustellen?
Wir setzen schon seit der Jahrtausendwende auf digitale Produkte. So haben wir bereits damals elektronische Kalender eingesetzt, die mit einem Organizer („Palm“) mobil waren. Smartphones gab es ja noch nicht. Außerdem haben wir sehr früh Spracherkennung eingeführt, um unsere Prozesse zu straffen.
Der „Game Changer“ war für uns aber die Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs am 1. Dezember 2008 beim Landgericht Stuttgart, sozusagen unserem Hausgericht. Ab diesem Zeitpunkt galt in unserer Kanzlei die elektronische Akte. Die damals noch doppelt geführte Papierakte war nur noch Beiwerk.
Seit dem 1. Januar 2013 gibt es in unserer Kanzlei nur noch elektronische Dokumente, bis auf rechtlich vorgeschriebene Ausnahmen wie notarielle Urkunden. Papierkorrespondenz wird seitdem geschreddert, was am Anfang ein komisches Gefühl war. Aber wir haben uns daran gewöhnt. Die Einführung des beA tat ihr Übriges. In dieser Zeit waren wir auch der Sparringspartner des Arbeitsgerichts Stuttgart, das uns als eine der wenigen schon damals papierlosen Kanzleien gefunden hatte, um den Versand von Verfügungen mit uns zu testen.
Spätestens seitdem war auch jeder Arbeitsplatz aus der Ferne, also z. B. von zu Hause, erreichbar.
Was war der Grund für die Umstellung?
Ehrlich? Faszination für neue Technologie. Aber natürlich waren und sind auch die Steigerung der Effizienz und nicht zuletzt die räumliche Unabhängigkeit von nichtjuristischen Mitarbeitenden Gründe gewesen. Heute genießen wir am meisten die „Ubiquität des Arbeitens“, also die Möglichkeit, von überall mit einem Laptop jede juristische Arbeit auszuführen.
Ich persönlich bin überzeugt, dass kein Anwalt und keine Anwältin ohne moderne IT-Infrastruktur wird überleben können. Juristische Beratung ist bereits heute teilweise ein Commodity-Produkt (ein Warenprodukt), das jederzeit sehr schnell verfügbar sein muss. Nicht nur die großen Handelsplattformen haben spätestens am nächsten Tag zu liefern. Mandanten und Mandantinnen kann niemand mehr mit dem Hinweis vertrösten, die Stellungnahme oder der Schriftsatz gehe noch heute in die Post.
Da Sie kein Einzelanwalt sind, müssen Sie mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an einem Strang ziehen. Gab es hier Herausforderungen, die Sie im Zuge Ihrer Kanzlei-Digitalisierung konfrontieren mussten?
Selbstverständlich! Die Qualifikation der Mitarbeitenden ist gestiegen. Zielqualifikation ist ein:e Rechtsfachwirt:in oder Vergleichbares mit belastbaren Englischkenntnissen und einem Verständnis elektronischer Prozesse. Unsere Mitarbeitenden sind Organisationsassistenten, die selbst juristische Prozesse beurteilen können. Reine Schreibkräfte gibt es schon lange nicht mehr.
Man muss den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Vorteile der Umstellung vermitteln: So haben sich auch unsere Dienstleistungen für die Mitarbeitenden weiterentwickelt. Wie gesagt, ist der Arbeitsplatz im Homeoffice nicht mehr wegzudenken. Flexible Arbeitszeiten sind essenziell. Aber auch das technische Equipment wie höhenverstellbare Schreibtische, große Bildschirme oder leistungsfähige Rechner sind für Anwälte und Mitarbeitende identisch.
Welche (Legal Tech-)Tools setzen Sie in Ihrer Kanzlei ein und welche Abläufe konnten dadurch optimiert werden?
Da wir aufgrund unseres vielschichtigen Beratungsangebots – ich persönlich bin Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht – kaum standardisierte Prozesse haben, wie beispielsweise bei Kündigungsschutzverfahren im Arbeitsrecht, Reisemangelverfahren oder Inkassofällen, ist unser Haupttool die Papierlosigkeit. Jede:r Mitarbeitende oder Anwalt kann heute überall alle Kanzleiabläufe verwalten, ohne Ausnahme. Fast ohne Ausnahme: Einer muss immer noch die lästige Papierpost auf den Scanner legen. Hier haben wir noch keinen Dienstleister gefunden, der gerade juristische Papierpost fachgerecht digitalisiert. Ein geschredderter Titel ist dann doch nicht der Weisheit letzter Schluss… Andersherum wird unsere verbleibende Papierpost allerdings elektronisch an einen Dienstleister übermittelt und versandt.
Grundsätzlich hat sich der Prozess des Eingangs der juristischen Korrespondenz, deren Bearbeitung und Versand sehr beschleunigt. Ich denke, wir sind bis zu 50 Prozent schneller als mit Papier. Die Fehleranfälligkeit ist extrem gesunken. Jedes Dokument einer Akte ist in einer Datenbank verknüpft und kann jederzeit und von überall, auch von mehreren gleichzeitig, über Suchroutinen gefunden und weiterverarbeitet werden.
Die weitere Nutzung einzelner Legal Tech-Tools wie die selbstständige Aufnahme von Daten für Akten, automatisierte Erstellung von Verträgen oder intelligente Aufbereitung von Datenbeständen testen wir immer wieder. Leider begrenzt uns hier die Komplexität der zu bearbeitenden Akten. Wir hoffen, dass in naher Zukunft die hierfür notwendigen Programme zur Verfügung stehen werden.
Welche positiven Auswirkungen hat die digitale Arbeitsweise (auch für die Mandantschaft)?
Gerade Corona war für uns ein positiver Trigger. Wir mussten fast nichts umstellen. Lediglich in Zeiten des harten Shutdowns musste jemand ausgelost werden, der die Papierpost macht.
Alle Mitarbeitenden genießen, so meine ich zumindest, die Freiheit des selbstbestimmten Arbeitens. Wir rufen unsere Mitarbeitenden aber auch nicht am Wochenende an, um noch eilige Arbeiten erledigen zu lassen.
Unser Internetauftritt scheint auszureichen, um Mandanten und Mandantinnen auch ohne persönliches Gespräch zu gewinnen. Das war für uns neu. Vor allem im Gesellschaftsrecht ist es ein langer Weg, um das Vertrauen der Mandantschaft zu gewinnen. Wir hätten uns vor Corona nicht vorstellen können, dass so etwas auch virtuell funktionieren kann. Über Videokonferenzen und nicht zuletzt einen jederzeit verfügbaren Datenraum für die Mandantschaft konnten wir aber unseren Geschäftsanfall in den letzten Jahren deutlich erhöhen. Wir sind also sozusagen Krisengewinner.
Unsere Mandantschaft meldet uns zurück, dass sie die komplett virtuelle Mandatsführung mit viel Transparenz schätzen. Unser Besprechungszimmer ist aber immer offen. Trotz unserer Technikverliebtheit sind wir überzeugt, dass ein persönliches Treffen jeden Prozess fördert.
Cornel Pottgiessers Tool-Tipps für die Umstellung von analog zu digital:
- RA-MICRO mit elektronischem Workflow, u. a. beA-Funktionalität, WebAkte und Online-Mandatsaufnahme
- Dragon Legal Individual 15
- Livescribe Smartpen
- vOffice für Videokonferenzen
- On Premises Windows Server, Exchange, SQL
- Securepoint Black Dwarf VPN
- Remote Desktop
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„Legal Tech für Einsteiger und Fortgeschrittene“
Foto: Adobe Stock/Jonathan Schöps
Cornel Pottgiesser ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht.
Er ist Partner einer Wirtschaftssozietät und berät vornehmlich Familienunternehmen. Außerdem ist er als Dozent für Internationales Wirtschaftsrecht tätig.