Im Juni 2024 hat der Bundestag die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik angenommen. Nahezu zeitgleich hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) den Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit veröffentlicht, der ebenfalls Regelungen zur Ausweitung der Videoverhandlung in Gerichtsverfahren enthält. Im erstgenannten Gesetzgebungsverfahren wurden die technische Ausstattung der Gerichte, die Akzeptanz in der Richterschaft und der Anwaltschaft sowie die Gründe für Ablehnungsanträge ausführlich diskutiert. Bislang fehlen jedoch belastbare Daten zur bundesweiten Praxis.
Das Informationsportal www.videoverhandlung.de soll dazu beitragen, die Videovernehmungen durch crowdbasierte und öffentlich zugängliche Daten im Interesse der Rechtsuchenden sowie der Anwaltschaft und Richterschaft zu fördern.
Videovernehmungen vor Gericht
Videovernehmungen haben seit der Pandemie großes Interesse bei vielen Rechtssuchenden und professionellen Prozessbeteiligten geweckt. Neben den rechtlichen Aspekten stellt sich immer wieder die Frage, wie gut deutsche Gerichte mit Videotechnik ausgestattet sind. Öffentliche Quellen geben hierüber nur begrenzt Auskunft. Aus einer Erhebung des BMJ geht lediglich hervor, dass es in Deutschland zum Stichtag 30. Juni 2020 rund 435 videokonferenzfähige Sitzungssäle gab.
Auch die online abrufbare Landesliste über die Standorte der Videokonferenzanlagen bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften gibt keinen detaillierten Aufschluss darüber, wie viele Spruchkörper mit welcher Technik verhandeln können und ob die vorhandene Technik nur für das jeweilige Gericht vorgehalten wird oder ob weitere Gerichte des Bezirks die Technik mit nutzen können. Ebenso fehlen belastbare Zahlen darüber, wie häufig und mit welcher Begründung Videovernehmungen genehmigt oder abgelehnt werden.
Zielsetzung und Nutzen von videoverhandlung.de
Mit dem Informationsportal videoverhandlung.de soll eine breite Datenbasis zur Videovernehmung in Gerichtsverfahren geschaffen werden. Praktiker:innen, Wissenschaftler:innen und Entscheidungsträger:innen können auf der Plattform Daten frei aggregieren und recherchieren. Besonderer Wert wird auf die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure gelegt.
Die Plattform wird bereits aktiv genutzt und es wurden ca. 13.000 Daten eingestellt. Diese Daten liefern detaillierte Einblicke in die Praxis an deutschen Gerichten und sind relevant für die gesetzgeberische und administrative Weiterentwicklung und Optimierung des digitalen Gerichtsverfahrens. Sie geben Auskunft über die technische Ausstattung, die Häufigkeit von Videovernehmungen und die Gründe für deren Ablehnung oder Genehmigung.
Positives sichtbar machen
In der öffentlichen Diskussion, insbesondere in sozialen Netzwerken oder durch Foren und „Reviews“, besteht derzeit ein verzerrtes Bild über die Realität und Akzeptanz von Videovernehmungen in gerichtlichen Verfahren. Die Plattform videoverhandlung.de will nicht nur die Herausforderungen, sondern auch die vielen positiven Beispiele und Entwicklungen sichtbar machen.
Durch die umfassende Sammlung von Daten und Erfahrungen aller Beteiligten soll ein ausgewogeneres Bild über die Wirksamkeit und den Nutzen digitaler Gerichtsverfahren entstehen. Positive Rückmeldungen sollen dazu beitragen, Vorbehalte der Prozessbeteiligten abzubauen. Sie können dazu ermutigen, Videovernehmungen zu beantragen und die Möglichkeiten der Videoverhandlung als Teil eines modernisierten Gerichtsverfahrens zu nutzen.
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Wird die neue Gesetzeslage zu mehr Videoverhandlungen führen?
Interessant wird auch sein, wie sich die aktuellen Gesetzesänderungen in Bezug auf die Videoverhandlung auf die Akzeptanz und Ausweitung der Videoverhandlung in der Praxis auswirken. Das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik beinhaltet einige Änderungen, die den Einsatz von Videokonferenztechnik in Gerichtsverfahren erleichtern sollen.
Zwar können die Verfahrensbeteiligten die Ansetzung einer Videogerichtsverhandlung nach wie vor nicht erzwingen. Das Gericht hat die Ablehnung von Anträgen aber zu begründen, wobei es wesentlich auf die Eignung des Falles und die vorhandenen Kapazitäten ankommt. Mündliche Verhandlungen und Urteilsverkündungen können künftig ohne physische Anwesenheit am Gerichtsort stattfinden. Dazu sollen vollvirtuelle Videoverhandlungen erprobt werden, bei denen auch der gesamte Spruchkörper digital teilnehmen kann. Dadurch kann Kapazitätsengpässe verringert werden.
Für einige Gerichte wurde bereits mitgeteilt, dass dort weniger Konferenzanlagen als Sitzungssäle vorhanden sind, sodass nicht in allen Sälen gleichzeitig virtuell verhandelt werden kann. Auch insoweit werden wir mithilfe der Daten auf www.videoverhandlung.de vergleichen, wie sich die Durchführung von Videoverhandlungen vor und nach Inkrafttreten des Gesetzes verändert.
Aufruf zum Mitmachen!
Das Informationsportal dient in erster Linie dazu, sich über die technischen Voraussetzungen bei den Gerichten zu informieren und hilfreiche Hinweise auf die eingesetzte Software oder lokale Besonderheiten zu erhalten. Perspektivisch wird auch von Interesse sein, inwieweit das Prozessverhalten der Beteiligten Einfluss darauf hat, ob eine Videovernehmung stattfindet. Die wachsende Datenbank von videoverhandlung.de kann eine wertvolle Ressource für Praxis und Forschung darstellen. Wir laden alle Interessierten herzlich ein, sich an diesem Projekt zu beteiligen.
Bild: Adobe Stock/©pathdoc
Dr. Christian Schlicht ist Richter am Landgericht und derzeit in die IT-Abteilung des Ministeriums der Justiz NRW abgeordnet. Zuvor war er u.a. IT-Dezernent am Landgericht Köln und mit der Einführung der E-Akte sowie der Koordination von Videoverhandlungen befasst. Er ist Mitgründer der "digitalen richterschaft".