Legal Tech in der Zivilgerichtsbarkeit

„Legal Tech in der Zivilgerichtsbarkeit – Chancen und Herausforderungen“
Ein Tagungsbericht – Teil 1

Am 21. und 22. Juni 2022 fand die Online-Tagung der Deutschen Richterakademie zum Thema „Legal Tech in der Zivilgerichtsbarkeit - Chancen und Herausforderungen\" mit hochkarätigen Referentinnen und Referenten statt. Dr. Simon J. Heetkamp und Dr. Christian Schlicht berichten von der Tagung, an der etwa 170 Richterinnen und Richter teilnahmen.

Die Deutsche Richterakademie hatte bereits im Jahr 2021 eine zweitägige Veranstaltung zum Thema „Legal Tech“ angeboten, damals noch mit dem Zusatz „Neue Wege auch für die Justiz?“ – dass dieses Fragezeichen wie aus der Zeit gefallen wirkt, machte die Tagungsleiterin Frau Dr. von Rosenstiel eingangs deutlich. Hierbei wies sie darauf hin, dass aus der ursprünglich befristeten Projektgruppe „Legal Tech“ im Bundesministerium der Justiz (BMJ) inzwischen ein Referat geworden sei.

Echte Innovation durch das richtige Mindset

Im ersten Impulsvortrag „Perspektivwechsel im Digitalen Wandel“ von RinLG Sina Dörr, derzeit Referentin im erwähnten BMJ-Referat, wurde deutlich, dass uns in der stattfindenden „digitalen Revolution“ noch die richtigen Antworten und Instrumente fehlen, um die neue Komplexität zu bewältigen. Dabei sei Digitalisierung nur ein – wenn auch wichtiges – Werkzeug. Noch entscheidender werde sein, ob wir uns als Gesellschaft und Justiz auf die Veränderungen und neuen Lernprozesse einlassen können. Innovation erfordere das richtige Mindset; echte digitale Transformation bedeutete nicht bloß, Legal Tech-Anwendungen zu bauen. Nicht das UX-Interface stehe im Zentrum, sondern das grundlegende Nachdenken über die tieferliegende Organisation und Struktur. Plastisch wurde dies anhand von zwei Methoden: Zum ersten das „First Principle Thinking“. Hierunter versteht man die Neuerfindung von Dingen, indem diese auf ihre fundamentalen Eigenschaften reduziert werden. Durch diesen Ansatz ist es möglich, komplexe Probleme zielgerichtet zu lösen. Diese Methode unterscheidet sich von dem normalen Innovationsweg, bestehende Probleme anhand vorhandener Gegebenheiten weiterzuentwickeln (Denken in Analogien). Die Denkweise sowie Verbesserung finden hier linear statt. Zum zweiten wurde die Methode des „(Legal) Design Thinking“ thematisiert (vgl. Titelbild). Letzteres wurde plastisch anhand des Projekts „Digitale Klagewege“ mit Tech4Germany vorgestellt.

Krise beim Zugang zum Recht?

Anschließend stellte Markus Hartung, Rechtsanwalt und Mediator in Berlin sowie Senior Fellow am Bucerius Center on the Legal Profession, unter dem Titel „Das Neueste vom Rechtsmarkt und der Umgang mit Massenverfahren“ die Bedürfnisse der Menschen, insbesondere der Verbraucherinnen und Verbraucher, an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Wir Menschen erwarteten den direkten, unmittelbaren Zugang zu Informationen. Menschen nähmen immer den direkten Weg zum Ziel. Mehr als zwei bis drei Klicks seien umständlich. Der Zugang zum Recht und zum Rechtswissen sei aber nicht leicht und existiere für Verbraucher:innen de facto nicht. Das Recht sei eine verschlossene Domäne für Expertinnen und Experten. Hartung sprach von einer Krise beim Zugang zum Recht: 70 Prozent der Bevölkerung gingen aus Kostengründen lieber nicht zum Anwalt. Das habe die „private Paralleljustiz“ ins Leben gerufen, wie z. B. PayPal eine solche betreibe (vgl. etwa anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/zivilrichtertag-modernisierung-des-zivilprozesses-julian-albrecht). Die heutige Rechtspflege sei nicht auf den Ausgleich für Streu- und Bagatellschäden ausgerichtet. In der Justiz würden Einzelfälle „super gut“ und „gründlich“ gelöst, während Verbraucher:innen bei kleinen Ansprüchen ein schnelles Verfahren wünschten. Im Folgenden ging Hartung noch auf die neuesten Entwicklungen durch die Rechtsprechung des BGH zu Inkasso- und Legal Tech-Unternehmen ein.

Perspektiven moderner Justiz

Der Vormittag endete mit einer Paneldiskussion, ebenfalls von Markus Hartung geleitet, an der die Präsidentin des Landgerichts Ingolstadt Frau Dr. Elisabeth Kurzweil, Herr RiOLG Jan Spoenle (IT-Dezernent am OLG Stuttgart), Frau RinLG Dr. Hendrike Wulfert-Markert, Herr Prof. Dr. Julius Reiter, Rechtsanwalt und Geschäftsführer der Kanzlei baum reiter & collegen und Herr Prof. Dr. Thomas Riehm von der Universität Passau teilnahmen.

„Game Changer“ E-Akte

Frau Dr. Kurzweil schilderte, dass am Landgericht Ingolstadt gegen die Audi AG in den letzten drei Jahren tausende Klagen eingereicht worden seien, zum Jahresende jeweils etwa 800 Verfahren in wenigen Tagen. Allein der Ausdruck und das Verakten dieser Klagen kurz vor Silvester habe bis in den März gedauert. Aus diesem Grund wurde auch auf die schnellstmögliche Einführung der eAkte gedrängt. Die eAkte habe in großem Umfang Abhilfe geschaffen, nicht zuletzt hinsichtlich des nicht mehr erforderlichen Ausdrucks, des Anlegens analoger Aktendeckel und des Platzmangels für die Aufbewahrung der Papierakten (diese wurden zeitweise in feuerfesten Schränken auf den Fluren gelagert). Insbesondere habe die eAkte das Zivildezernat zu einem attraktiveren Arbeitsplatz gemacht, weil ein ortsunabhängiges Arbeiten noch leichter wurde. Frau Dr. Kurzweil wies darauf hin, dass technische Lösungen erst jüngst erprobt würden. Im Einsatz sei die lernende Software „Codefy“.

Herr RiOLG Jan Spoenle leitete sein Statement mit der Feststellung ein, dass am Oberlandesgericht Stuttgart bundesweit die höchste Anzahl an offenen Berufungsmassenverfahren – über 10.000 Verfahren – anhängig sei. Das OLG habe Spezialsenate eingerichtet, die Dieselverfahren bearbeiten (abgesehen von den EA189-Verfahren, bei denen der BGH die wesentlichen Rechtsfragen geklärt habe). Auch am OLG Stuttgart sei die eAkte ein „Game Changer“ gewesen. Gleichwohl wäre ohne weitere Maßnahmen mehr als eine Verdoppelung des Personals im richterlichen und nichtrichterlichen Bereich erforderlich, um die Verfahren in angemessener Zeit bearbeiten zu können. Gerade im nichtrichterlichen Bereich würde eine immense Arbeit entstehen, wenn aufgrund neuer Entscheidungen durch einzelne Kanzleien unaufgefordert „Update-Schriftsätze“ in allen Verfahren übermittelt würden, wenn die Kanzlei beispielhaft 1.600 anhängige Verfahren betreute. Jüngst habe das OLG Celle ein Netzwerk „Massenverfahren“ ins Leben gerufen. Auf dieser Plattform könnten sich die Oberlandesgerichte bzgl. organisatorischer und technischer Verbesserungen austauschen. Daneben sei eine unterstützende Tätigkeit durch Software angestrebt, zumal die Justiz auf einem „riesengroßen Datenschatz“ sitze. Es sei bereits eine Schriftsatzvergleichssoftware im Einsatz, die ermitteln könne, ob es in Schriftsätzen überhaupt relevante Unterschiede gebe und wenn ja, an welchen Stellen. Daneben solle eine KI zum Einsatz kommen, die eine Kategorisierung anhand bestimmter, richterlich festgelegter Kriterien vornehmen könne, um etwa zu identifizieren, welche Verfahren sich für einen Beschluss nach § 522 ZPO eigneten.

Bessere Bewältigung von Massenverfahren in der Justiz

Im Folgenden erläuterte RinLG Dr. Hendrike Wulfert-Markert die Ideen der von ihr mitverfassten Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur besseren Bewältigung von Massenverfahren in der Justiz. Insbesondere hob sie hervor, dass es den Verfasserinnen und Verfassern zunächst darum gegangen sei, „akute Brandherde zu löschen“. Dies sei durch kleine Veränderungen möglich und zeitnah umzusetzen. Auf die Frage, warum sich die Stellungnahme nicht zum kollektiven Rechtsschutz äußere (vgl. anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/deutscher-richterbund-arbeitsgemeinschaft-massenverfahren-kollektiver-rechtsschutz), entgegnete Frau Dr. Wulfert-Markert, dass diesbezügliche Fragen sehr wohl, jedenfalls in ihrer Arbeitsgruppe, diskutiert worden seien. Sie persönlich halte es für einen zielführenden Weg, weil sich Massenverfahren praktisch nicht für den Individualrechtsschutz eigneten. Auch im Chat fand parallel – während der gesamten Tagung – eine lebehafte Diskussion statt. Sehr pointiert merkte eine Kollegin an dieser Stelle an: „Massenverfahren brauchen eine industrielle Fertigung der Rechtsprechung, nicht Manufakturen, wie unsere heutigen Gerichte ausgestaltet sind.“

Herr Prof. Dr. Reiter leitete seine Stellungnahme mit der Einschätzung ein, der Verbraucher sei in Deutschland schlecht gestellt. Er kritisierte die „Schädigerindustrie“ und das völlige Ungleichgewicht zwischen Verbraucher:innen und Industrie. Mittlerweise sei die Verbraucherseite teilweise technisch viel besser aufgestellt. In seiner Kanzlei seien nicht nur Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, sondern etwa auch Legal Architects und Legal Engineers tätig, um die erforderlichen technischen Strukturen zu schaffen, zu verwalten und zu verbessern. Hier äußerte Herr Prof. Dr. Reiter Zweifel, ob die Justiz in der Lage sei, aufzuschließen. Für Massenverfahren sehe er den „Königsweg“ in der (außergerichtlichen) Mediation in Form einer Vergleichsplattform für bestimmte Massenschäden. Dort könnten Pauschalbeträge für bestimmte Sachverhalte mit den „Beklagten“ ausgehandelt werden. Nach seiner Erfahrung entspreche dies dem Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich – angelehnt an das Pareto-Prinzip – mit 80 Prozent zufrieden gäben.

Deutschland im internationalen Vergleich

Die Runde schloss Prof. Dr. Thomas Riehm mit sehr interessanten Überlegungen zur „Aufholjagd“ der deutschen Justiz im internationalen Vergleich. Dabei stellte er zunächst fest, dass „wir ohne Massenverfahren nicht hier sitzen und über Digitalisierung sprechen würden“ –  obwohl die deutsche Justiz einen Rückstand von 10 bis 15 Jahren im Vergleich zu anderen Ländern zu verzeichnen habe. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass wir diesen Rückstand mit dem bisherigen Tempo nicht aufholen könnten. Umgekehrt finde ein exponentielles Wachstum der digitalen Entwicklung statt, sodass sich der Rückstand noch vergrößern werde. Herr Prof. Dr. Riehm unterlegte dies mit einem anschaulichen Beispiel: Länder, die heute schon Daten sammelten, könnten ihre KI schneller und besser trainieren. Selbst wenn wir heute mit der Datensammlung und dem KI-Training beginnen würden, könnten wir den Vorsprung nicht mehr aufholen. Vor diesem Hintergrund sei es erforderlich, schon heute Parallelsysteme „from scratch“ aufzusetzen, z. B. einige zentrale Gerichte, die mit abweichenden Methoden und ggf. anderen Prozessregeln agierten. Denkbar sei etwa, dass Prozesse im digitalen Dateninterface unmittelbar zwischen den Parteien stattfinden und so das Potential von Metadatensammlungen und interaktiven Dokumenten genutzt werde. Das Gericht könnte an diesem Prozess der Parteien teilnehmen, anstatt – wie heute – die technischen Möglichkeiten der Parteien zu limitieren.

Bundesweites Justizportal und beschleunigtes Online-Verfahren

\"\" Martin Zwickel, Sina Dörr und Wiebke Voß diskutieren über die Digitalisierung des Zivilprozesses

Nach der Mittagspause dozierten Prof. Dr. Wiebke Voß von der Universität Würzburg und Privatdozent Dr. Martin Zwickel von der Universität Erlangen-Nürnberg über „Neues zur Digitalisierung des Zivilprozesses“. An den Anfang stellten die Wissenschaftler:innen den Handlungsbedarf, der sich durch die Corona-Pandemie gezeigt habe. In einem zweiten Schritt plädierte Frau Prof. Dr. Voß vor dem Hintergrund der Bürgernähe und Effizienz für ein bundesweites Justizportal und ein beschleunigtes Online-Verfahren. Dabei richtete sie den Blick nach Kanada, wo zivilrechtliche Streitigkeiten „schon heute“ über eine Online-Plattform vorbereitet und abgewickelt werden können. Freilich seien noch viele Fragen ungeklärt, etwa die Zugänglichkeit, Öffentlichkeit und Mündlichkeit sowie die Mehrbelastung für die Justiz. Nun ging Herr Dr. Zwickel auf den strukturierten Parteivortrag ein, beschränkte seine Ausführungen aber nicht auf vorgegebene Strukturierungsmasken, sondern nahm alle Facetten der Strukturierung und Inhaltserschließung in den Blick. Dabei stellte er auch die Frage, wer die Strukturierung vorgeben solle – die Parteien oder das Gericht? Abgerundet wurden die Ausführungen durch den Ausblick auf möglichst optimale Strukturierungsverfahren und geeignete digitale Tools.

Der erste Tag der Veranstaltung wurde durch acht Breakout-Sessions abgerundet, in denen intensiv über das beschleunigte Online-Verfahren, Strukturierungsverfahren, die inhaltliche Erschließung des Parteivortrags und die Gestaltung des digitalen Zugangs zur Justiz diskutiert wurde.

Bilder: Dr. Christian Schlicht und Dr. Simon J. Heetkamp
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Dr. Christian Schlicht ist Richter am Landgericht und derzeit in die IT-Abteilung des Ministeriums der Justiz NRW abgeordnet. Zuvor war er u.a. IT-Dezernent am Landgericht Köln und mit der Einführung der E-Akte sowie der Koordination von Videoverhandlungen befasst. Er ist Mitgründer der "digitalen richterschaft".

Weitere Beiträge

Richter Dr. Simon J. Heetkamp promovierte nach seinem Studium und Referendariat in Münster, Düsseldorf, Ankara, Den Haag und Tokyo zum Thema der Online Dispute Resolution. Anschließend war er mehrere Jahre in einer großen deutschen Wirtschaftskanzlei als Rechtsanwalt im Bereich Streitbeilegung tätig, bevor er in den richterlichen Dienst eintrat. Er hat kürzlich das Forum „digitale-richterschaft.de“ mitgegründet, das zum Austausch zu Digitalisierungsthemen in der Justiz dienen soll.

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