Von Nadia Neuendorf und Verena Schillmöller
Unter dem Motto „Legal Tech – eine Frage der Vielfalt“ fand am 14. und 15. Oktober der diesjährige und insgesamt 6. Anwaltszukunftskongress statt. Aufgrund der Corona-Pandemie erneut als digitaler Fachkongress geplant, lieferte die Veranstaltung den über 200 teilnehmenden Juristinnen und Juristen zwei Tage lang interessante Einblicke in digitale Zukunftsszenarien, Best-Practice-Modelle und aktuell relevante Legal Tech-Fragen. Für alle die, die den Kongress noch einmal Revue passieren lassen möchten oder nicht dabei sein konnten, fassen wir hier einige der zentralen Themen zusammen.
Das digitale Potenzial der Justiz
Nach Begrüßung, Keynote und Impulsvortrag startete am ersten Veranstaltungstag die Diskussionsrunde „Roboter in Roben – Digitalisierungsproblematik in der Gerichtsbarkeit“. Trotz einiger technischer Probleme, der Kombination aus Referent:innen vor Ort und Remote geschuldet, ergab sich ein interessanter, von Dr. Anette Schunder-Hartung moderierter, Austausch zwischen Sina Dörr, Richterin am Landgericht, Roland Ketterle, Präsident des Landgerichts Köln und Prof. Dr. Köbler, Präsident des Landgerichts Darmstadt.
Prof. Dr. Köbler mahnte an, dass die deutschen Gerichte bis auf einige angenehme Modifikationen IT-technisch auf dem Niveau der 90er Jahre verharrten und diesbezüglich weit hinter anderen Branchen, beispielsweise der Bankenbranche, zurücklägen. Dies brächte deutliche Nachteile für die Rechtssuchenden mit sich. Auch § 128a ZPO, der die Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung regelt, hätte seit 20 Jahren keine Innovation erfahren. Zudem beobachte er bei der Akzeptanz von neuen digitalen Arbeitsweisen deutliche Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Kolleginnen und Kollegen. Weniger pessimistisch betrachtete Roland Ketteler die Lage. Er verglich das Digitalisierungsvorhaben der Justiz mit einem Marathon, der um die Jahrtausendwende gestartet sei. Auch einen „Generation Gap“ könne er in seinem Umfeld nicht beobachten. Als klare Vorteile der Digitalisierung und den damit verbundenen Videoverhandlungen, hob er den Wegfall von Reisen, die Möglichkeit zur Heimarbeit und flexible Arbeitszeiten hervor – wenn auch die technische Ausstattung noch ausbaufähig sei.
Robo-Judge mehr als eine Dystopie?
Stehen am Ende des Digitalisierungsprozesses Roboter-Richter? Hier war sich die Diskussionsrunde einig, dass dies kein realistisches Zukunftsszenario darstellt. Eine wahrscheinlichere und vielversprechende Zukunftsvision beschrieb Sina Dörr: In diesem leisten Algorithmen nicht nur wertvolle Zuarbeit, sondern liefern auch Vorentscheidungen, die im Anschluss von menschlichen Richterinnen und Richtern geprüft und rechtskräftig verhängt werden. So könnten standardisierbare Fälle effizient bearbeitet und die Gerichte deutlich entlastet werden. Das löse auch das Problem, dass die Gerichte durch einen gesteigerten Zugang zum Recht, mehr Klagen zu bearbeiten haben. „Automatisierung wird nur dann zum Boomerang, wenn sie einseitig erfolgt“, so Dörr. Das heißt, nicht nur auf Verbraucherseite sind Automationstools nötig, sondern auch auf Seiten der Justiz. So gebe es in Kanada beispielsweise bereits ein Online-Klagetool, durch das Konflikte eigenständig gelöst werden sollen. Die Klage ist dann nur noch die Ultima Ratio.
Auf spannende Vorträge, Streitgespräche und Diskussionen folgten am zweiten Veranstaltungstag die „Virtual Classrooms“, bei denen Themen wie Legal Tech in der Praxis, Kanzleimarketing und Legal Design in kleinen Gruppen thematisiert wurden.
Vor welche Herausforderungen stellt die Digitalisierung eine mittelständische Kanzlei?
Im Virtual Classroom „Best Demonstrated Practices aus Kanzleien und Rechtsabteilungen“ gaben verschiedene Anwält:innen aus Kanzleien und Rechtsabteilungen Einblicke in ihren Digitalisierungsprozess. Tanja Schindler von Sonntag und Partner berichtete von den Herausforderungen einer mittelständischen Kanzlei auf dem Weg zur Digitalisierung: Eine große Herausforderung sei momentan z. B. die über Jahre gewachsene Systemlandschaft. Verschiedene Software und Tools wurden eingeführt, ohne darauf zu achten, wie und ob die unterschiedlichen Systeme zusammenarbeiten können. Das hat Medienbrüche und Doppelerfassungen von Daten zur Folge. Zudem sind die zeitlichen und finanziellen Ressourcen begrenzt. Ein Ziel der Kanzlei ist es, Wünsche von Mandant:innen bezüglich der Digitalisierung antizipieren zu können und proaktiv zu handeln, anstelle bedarfsgetrieben zu reagieren.
Um diese Probleme zu lösen, geht die Kanzlei wie folgt vor:
- Durchführung einer Bestandaufnahme: Welche Tools werden bereits genutzt? Wie können (noch) schnellere Lösungen geschaffen werden?
- Orchestrierung der verschiedenen Datentöpfe durch Einführung eines Prozessmanagement-Tools (dafür nutzt die Kanzlei omni-tracker)
- Digitalisierung als Voraussetzung für die Automatisierung: Geplante Einführung von digitalem Briefpapier und papierloser Kommunikation
- Standardisierung und Optimierung von Prozessen
- Sukzessive, geplante Erneuerung von Tools
Wie gelingt Veränderung?
Der Virtual Classroom „Veränderungsprozesse in Kanzleien konstruktiv gestalten“ lieferte Tipps für die Implementierung von Change Management-Prozessen. Zunächst näherte sich Felix Wendenburg vom Institut für Konfliktmanagement dem Thema von der wissenschaftlichen Seite und beschrieb u. a. den sogenannten „Ikea-Effekt“: „Wir schätzen unsere Möbel, wie etwa Regale mehr, wenn wir sie selbst aufgebaut haben“, so Windenburg. Ähnlich verhalte es sich mit Veränderungsprozessen: Wir finden es gut, wenn wir Einfluss auf Prozesse und Entscheidungen haben und diese selbst mitgestalten können. Strukturwandel funktioniert zudem nicht ohne den entsprechenden Kulturwandel: Führt ein Unternehmen Großraumbüros mit freier Platzwahl ein, muss es sich zugleich Lösungen für mögliche Probleme überlegen: Wie gehen Mitarbeitende z. B. damit um, wenn plötzlich jemand auf „ihrem“ Platz sitzt?
Im zweiten Teil des Virtual Classrooms gab Christof Berlin Einblicke in die gelungene Durchführung von Veränderungsprozessen der söp Verbraucherschlichtung. Die Verbraucherschlichtung hatte mit einem hohen Anstieg der Fallzahlen zu kämpfen, konnte das Personal aber gleichzeitig nicht verstärken. Die Arbeitsweise der Mitarbeitenden musste dementsprechend angepasst werden. Als eine Maßnahme, um die Fallbearbeitung zu beschleunigen, wurde die sogenannte „blaue Woche“ eingeführt: Hier wurden nur ähnlich gelagerten Fälle einer Fluggesellschaft mit blauem Logo bearbeitet. Um die eigentlich ernste Situation etwas aufzulockern, brachten die Mitarbeitenden z. B. Blaubeermuffins oder blaue Deko mit. Auch der Digitalisierungsprozess der söp war ein großer Veränderungsprozess: Es wurde eine söp-weite Task Force eingerichtet, in der alle Bereiche der Schlichtungsstelle repräsentiert waren. Statt ein fertiges Produkt zu kaufen, wurde sich für die maßgeschneiderte Entwicklung eines Produkts entschieden, um alle Wünsche der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen integrieren zu können. Das führte dazu, dass nicht nur das Mitdenken im Unternehmen gestärkt wurde, sondern auch der Teamgeist.
Programmieren – ja oder nein?
Im Virtual Classroom „HR – Was Kanzleien bieten, was Einsteiger wünschen“ ging es darum, die Ansprüche von Berufsstarter:innen in Sachen Digitalisierung einerseits und die der Kanzleien andererseits näher zu beleuchten und herauszufinden, wie beide Seiten zusammenkommen können.
„Man muss nicht programmieren können“, so die Aussage von Dr. Thomas Ackermann, Rechtsanwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer. Dennoch sei es für Berufseinsteiger hilfreich, zumindest Grundkenntnisse zu haben. Denn das führe dazu, dass Anwältinnen und Anwälte besser beurteilen könnten, was ein Computer leisten kann und was nicht. Und dass immer mehr automatisiert wird, sei unbestritten. Aufgaben die automatisiert werden können, machten nämlich häufig nämlich wenig Spaß (z. B. Fußnoten in Schriftsätzen aktualisieren oder Rechnungen prüfen) und können Platz schaffen für spannendere und lukrativere Tätigkeiten.
Revolution der juristischen Recherche durch Legal Analytics
In einem weiteren Virtual Classroom mit dem Titel „Legal Analytics“ wurde es technisch: Christian Hartz, Legal Engineer bei Wolters Kluwer und Henner Hinze, Designer für das Legal Analytics Project bei Wolters Kluwer, hatten den Anspruch, den Teilnehmenden das komplexe Thema der systematischen Datenauswertung für die Mandatsarbeit verständlich näherzubringen.
Erklärt wurde, wie Algorithmen und Legal Analytics funktionieren, wo wir in der Entwicklung stehen und wie Juristinnen und Juristen davon profitieren.
Die derzeit größte Schwierigkeit bei Legal Analytics: Ein Teil der Analyse scheitert bisher noch an fehlenden deutschsprachigen Daten, z. B. von Gerichtsurteilen.
Doch wie kann Legal Analytics im juristischen Alltag helfen? Relevante Informationen sollen automatisch immer dann erscheinen, wenn der oder die Nutzer:in sie benötigt.
Dies würde die aktive Suche in Datenbanken wie Beck, juris und Wolters Kluwer Online komplett durch automatisch generierte intelligente Hinweise an passenden Stellen ersetzen. Hinzu kämen Vorhersagen und Vorschläge z. B. bei der Erstellung von Dokumenten, dem Einfügen von Klauseln etc.
Fazit zum Anwaltszukunftskongress 2021
Was unter dem Motto „Legal Tech – eine Frage der Vielfalt“ startete, lieferte einen breitgefächerten Einblick in die Legal Tech-Welt. Trotz einiger technischer Probleme, die die digitale Ausrichtungsart hier und da mit sich brachte, erhielten die teilnehmenden Juristinnen und Juristen spannende Einblicke, in die Einsatzmöglichkeiten von Legal Tech, und Impulse zur Implementierung in der eigenen Praxis. Auch der Blick in die nahe Zukunft zeigte, dass Legal Tech enormes Potenzial für den Zugang zum Recht und die effiziente Arbeit von Anwältinnen und Anwälten birgt.
Der nächste Anwaltszukunftskongress 2022 soll wieder als Präsenzveranstaltung stattfinden.