Von Dr. Ralf Köbler
Über die Nutzung von Smartphone-Apps zur Kommunikation mit den Gerichten wird durchaus nachgedacht. Was fehlt, sind die Ressourcen und das Fachwissen derartige Projekte wahr werden zu lassen, meint Dr. Ralf Köbler. Im Interview verdeutlicht der Präsident des Landgerichts im hessischen Darmstadt, dass die Potentiale der Digitalisierung noch lange nicht von der Justiz genutzt werden und verrät, was Legal Tech-Startups und Anwälte voneinander lernen können.
Ihrer Ansicht nach schöpft der elektronische Rechtsverkehr die bisherigen Möglichkeiten für das Rechtswesen nicht aus. In welchen Tools sehen Sie am meisten Verbesserungspotential?
"Der gesetzliche Ansatz des elektronischen Versands von Dokumenten lässt sich als eine Art Digitalisierung der Postkutsche verstehen."
Schon bei den gesetzlichen Regelungen: Der Gesetzgeber hat versucht, mit der Einfügung von a)- und b)-Vorschriften in die Verfahrensordnungen die Welt der Papierakten für das digitale Zeitalter elektronischen Rechtsverkehrs und elektronischer Akten nachzubilden. Der gesetzliche Ansatz des elektronischen Versands von Dokumenten lässt sich als eine Art Digitalisierung der Postkutsche verstehen. Warum nicht gemeinsame E-Akten in einer Cloud speichern? Das Prinzip eines öffentlich-rechtlichen elektronischen Versanddienstes, das durch das beA realisiert wird, verhindert außerdem einen sinnvollen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Anbietern. Sollten Systeme einmal ausfallen, trägt allein die öffentliche Hand das Ausfallrisiko.
Sie sprechen zum Beispiel auch vom mobilem Arbeiten und Benachrichtigungen über Geschehnisse im Verfahren per Smartphone. Wann sind die Gerichte und die Anwaltschaft dafür bereit? Was ist notwendig, um diese Entwicklung voranzutreiben?
In Hessen waren die Überlegungen für eine entsprechende Smartphone-App vor einigen Jahren bereits sehr weit vorangeschritten. Bis zur Einführungsreife konnte das Projekt allerdings wegen vordringlicher Aufgaben nicht vorangebracht werden. Schon daran lässt sich erkennen, dass es an den Ressourcen fehlt, wobei damit immer eine Kombination zwischen Fachwissen und Geld gemeint ist. Es lässt sich eben mit Geld nicht alles Notwendige hinzukaufen. Angesichts der Belastungs- und Personalsituation der Gerichte und Staatsanwaltschaften ist es allerdings für die Justiz ausgesprochen schwierig, kompetentes Fachpersonal aus der Praxis abzuziehen.
Bei all dem beA-Chaos sind elektronische Kommunikationswege in der Anwaltschaft nicht gerade beliebt. Wie kann das Vertrauen wieder zurückerlangt werden?
Aus meiner Sicht ist das angesprochene beA-Chaos nicht so groß, wie es von interessierten Kreisen aufgebauscht wurde. Die aufgedeckte Sicherheitslücke, die allerdings nicht weggeredet werden kann, dürfte nicht so gefährlich gewesen sein, wie befürchtet. Der größere Schaden besteht darin, dass viele der Bundesrechtsanwaltskammer möglicherweise nicht zutrauen, einen komplexen Verzeichnisdienst sicher auszugestalten und zu betreiben. Es ist zu hoffen, dass das von der Bundesrechtsanwaltskammer angekündigte Sicherheitsgutachten zu der überarbeiteten beA-Lösung zur Vertrauensbildung beitragen wird. Darüber hinaus dürften die Bedenken etwas in den Hintergrund gedrängt werden, wenn die erforderlichen Schnittstellen es endlich erlauben, das beA in Anwaltssoftware einzubinden. Durch Praktikabilität und Komfort für die Büromitarbeiterinnen und -mitarbeiter dürfte die Zufriedenheit dann eine enorme Steigerung erfahren.
Wie erleben Sie den Umgang mit elektronischen Kommunikationskanälen im Gerichtsalltag? Gibt es Tools, die schon genutzt werden, z. B. Software, die komplexe Strafverfahren analysiert?
Der Umgang mit elektronischen Kommunikationskanälen im Gerichtsalltag ist zunächst unspektakulär. Die allseits verfügbare E-Mail ist für die Kommunikation in gerichtlichen Verfahren nicht zugelassen. Die Kommunikation im elektronischen Rechtsverkehr läuft über zentrale elektronische Poststellen, die – soweit keine E-Akten-Pilotierung betrieben wird – die Posteingänge ausdrucken und zu den Papierakten reichen. Insoweit hat der elektronische Rechtsverkehr bisher lediglich die Funktion, den eigentlich technisch überholten Faxbetrieb teilweise zu ersetzen. Das ist noch nicht viel. Erfreulich ist, dass seit Ende 2017 eingehende DE-Mail-Nachrichten über ein Gateway in die elektronischen Poststellen des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs der Gerichte geleitet werden und damit DE-Mail als gesetzlich zugelassener Übermittlungsweg in der Praxis genutzt werden kann, was derzeit noch sehr wenig geschieht. Analyse-Tools, die in Richtung künstlicher Intelligenz weisen, sind meines Wissens bisher nicht im Einsatz. Es wird aber vielerorts Strukturierungssoftware eingesetzt, mithilfe derer sich insbesondere komplexe Wirtschaftsstrafverfahren durchdringen und überschaubarer machen lassen. Daneben wird sehr erfolgreich Spracherkennungssoftware eingesetzt, die besonders auf die Bedürfnisse der Rechtssprache ausgelegt ist.
Wenn Sie Anwalt wären, welche Mittel würden Sie nutzen, um möglichst effizient mit den Gerichten zu kommunizieren?
"Aus meiner Sicht gibt es im Bereich effektiver Organisation nicht nur in der Justiz, sondern auch in vielen Kanzleien, noch Optimierungsbedarf."
Ich würde die gesamte Bürokommunikation auf elektronischen Rechtsverkehr umstellen und die Gerichte bitten, mir die Dokumente aus den Verfahren auf diesem Weg zuzustellen. Dies würde eine sehr papierarme Büroorganisation ermöglichen, Scan- und Kopieraufwände reduzieren und den Aufbau elektronischer Kanzleiakten fördern. Aus meiner Sicht gibt es im Bereich effektiver Organisation nicht nur in der Justiz, sondern auch in vielen Kanzleien, noch Optimierungsbedarf.
Sie organisieren als Vorsitzender der Darmstädter Juristische Gesellschaft e.V. auch Veranstaltungen, bei denen sich „klassische“ Juristen und Legal Tech-Startups begegnen. Was können beide voneinander lernen?
Die „klassischen“ Juristen können von Legal Tech-Startups eine Ahnung davon erwerben, dass und wie sich das bisherige Geschäft mit dem Recht wandeln wird und welche Perspektiven dabei für sie entstehen könnten. Legal Tech-Startups wiederum können mit Respekt auf das vielgestaltige Fachwissen und die Seriosität hergebrachter Rechtsberatung und -vertretung schauen und sich Mühe geben, selbst Vertrauen zu bilden und zu rechtfertigen.
Wie kann Legal Tech Gerichte entlasten? Stichwort „Verfahrensdauer-Ranking“.
Aus meiner Sicht werden Legal Tech-Ansätze die Gerichte mittelfristig nicht erreichen, weil die Justizverwaltungen mit der Umsetzung des elektronischen Rechtsverkehrs und der Einführung elektronischer Akten bis 2026 ausgelastet sein dürften. Langfristig sehe ich erhebliche Potenziale in der Formalisierung elektronischer Einreichungen, die den Anforderungen der Anspruchsnorm gerecht werden und in einer Software abgebildet werden könnten. Im Idealfall kann man mit ihr auch Entscheidungsentwürfe auf Knopfdruck, konkret und auf den Einzelfall zugeschnitten, vorschlagen. Die letzte Entscheidung muss natürlich immer beim Richter liegen.
Herr Köbler, ich danke Ihnen sehr herzlich für das interessante Gespräch!
Foto: Fotolia/Brigitte
Dr. Ralf Köbler ist seit 2015 Präsident des Landgerichts im hessischen Darmstadt und setzt sich dort u.a. für die Modernisierung der Strukturen und der Kommunikation ein. Er ist Mitglied des Vorstands des Deutschen EDV-Gerichtstags und Lehrbeauftragter der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer für E-Justice-Tools und strukturierten Parteivortrag. Als Vorsitzender der Darmstädter Juristischen Gesellschaft e.V. vermittelt er den Teilnehmern der Vortragsveranstaltungen auch die Potentiale von Legal Tech.