Legal Tech Jahresrückblick 2020

Jahresrückblick: Legal Tech und Anwaltschaft im ereignisreichen Jahr 2020

Von Tobias Reinhardt

Im folgenden Beitrag wird auf das ereignisreiche Jahr 2020 zurückgeblickt, in das die Legal Tech-Szene gestärkt und mit Rückenwind startete, nachdem der Bundesgerichtshof Ende 2019 mit seiner richtungsweisenden Entscheidung das auf einer Inkassolizenz basierende Geschäftsmodell des Portals wenigermiete.de gebilligt hatte.

Besondere Erinnerungen an die „Berlin Legal Tech“

Die Euphorie der rasant wachsenden und visionären Branche nahmen vor allem die rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Berlin Legal Tech“ wahr, als sie im Februar zum ersten großen Event des Jahres zusammenkamen. Die bereits zum vierten Mal veranstaltete Berliner Konferenz hätte den Auftakt für zahlreiche weitere im Jahreskalender fest verankerte Events bilden sollen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen folglich die breit gefächerten Fachvorträge. Das Corona-Virus hingegen wurde überhaupt nur deshalb am Rande relevant, weil ein Referent seinen ursprünglich als Präsenzvortrag geplanten Beitrag per Webcam aus seinem Büro hielt, nachdem sein Arbeitgeber am Vortag Auswärtstermine vorausblickend untersagt hatte. Nunmehr, fast ein Jahr später, lässt sich die Konferenz rückblickend mit grundlegend anderen Eindrücken in Verbindung bringen, denn sie war für den Autor und wahrscheinlich zahlreiche weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer bis heute die letzte Präsenzveranstaltung der Branche. In Erinnerung bleiben daher Wahrnehmungen, die in einer pandemiefreien Welt sicherlich als selbstverständlich ausgeblendet worden wären und mit keinem Jahresrückblick Erwähnung gefunden hätten. Gemeint ist das Zusammentreffen mit zahlreichen anderen Menschen, beispielsweise das gesellige Beisammensein im Zuge des Hackathons am Abend des ersten Veranstaltungstages, aber vor allem auch die vielen kleinen Begegnungen am Rande, die sich über Zoom, Facetime, Google Meet und Co. nicht realisieren lassen.

Ein Blick auf die Anwaltschaft im ersten Corona-Jahr

Die Welt veränderte uns nur wenige Wochen später schlagartig, nicht nur auf privater Ebene, sondern auch im beruflichen Kontext. Die Anwaltschaft sah sich über Nacht mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Sie war gezwungen, Gewohntes neu zu denken und den ohnehin im Zuge der Digitalisierung bevorstehenden Transformationsprozess beschleunigt voranzutreiben.

Profiteure dieses neuen Marktumfeldes waren vor allem die Kanzleien, die ihre Arbeitsprozesse bereits vor der Krise digital darstellten, also beispielsweise aufgrund einer papierlosen Büro-, Kommunikations- und Mandatsorganisation aus einem vollwertigen Homeoffice heraus uneingeschränkt handlungsfähig blieben. Vielfach waren es auch eben diese Kanzleien, die eine überdurchschnittliche Anzahl an pandemiebedingten Mandaten für sich gewinnen und somit sogar zusätzlichen Umsatz generieren konnten. Ursächlich für das außerplanmäßige Geschäft ist im Kern ein fortgeschrittener Digitalisierungsprozess. Die anwaltliche Dienstleistung basiert als immaterielle Leistung auf Vertrauen, weil der Mandant als rechtlicher Laie die juristische Leistungsqualität seiner Anwältin oder seines Anwalts oftmals nicht selbst beurteilen kann. In der Krise sehen viele Ratsuchenden einen solchen zuverlässigen und vertrauensvollen Partner in digital organisierten Kanzleien, bei denen auch im Lockdown ein Ausfall der Mandatsbearbeitung nicht zu befürchten ist.

Doch auch diese digitalisierungsaffinen Kanzleien wurden an einigen Stellen ausgebremst und zwar durch die Gerichte, die einerseits sicherlich während des ersten Lockdowns schuldlos Verhandlungstermine absagen mussten, aber andererseits trotz der seit Jahren bestehenden gesetzlichen Voraussetzungen nicht in der Lage waren, im Wege der Bild- und Tonübertragung digital zu verhandeln, weil hierzu die technische Ausstattung fehlt.

Der rückschauende Blick gilt aber natürlich auch den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen in meist kleinen klassischen Kanzleien, die im ersten Corona-Jahr mit erheblichen Hürden zu kämpfen hatten und ad hoc nicht auf das veränderte Marktumfeld reagieren konnten. Als Gerichtstermine zwischen Mitte März und Ende April entfielen (NRW), wurden laufende Mandate nicht abrechenbar; zudem entstanden aufgrund der Kontaktbeschränkungen dort weniger Neumandate, wo die Infrastruktur für die beschriebene digitale Organisation und Kommunikation fehlte oder Rechtsgebiete angeboten wurden, die in der Krise unabhängig vom Digitalisierungsgrad nicht gefragt waren. Ausbleibende Einnahmen standen dann gleichbleibenden Fixkosten gegenüber. Nicht wenige Berufsträger mussten deshalb schon im Frühjahr staatliche Soforthilfen oder Darlehen in Anspruch nehmen. Diese Entwicklung setze sich über das gesamte Jahr fort, wie eine Umfrage der BRAK zeigt. Demnach waren auch im September 2020 weiterhin rund die Hälfte der an der Befragung teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen von der Krise betroffen.

Die Legal Tech-Community blieb aktiv

Gleichzeitig bestätigen 62,22 Prozent der Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, dass sie sich infolge der Pandemie zunehmend mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Nicht nur deshalb lohnt sich auch ein Rückblick auf die Legal Tech-Branche, deren Aktivitäten im zurückliegenden Jahr deutlich über die von den Umfrageteilnehmern wahrscheinlich primär thematisierte Digitalisierung von Arbeits- und Büroabläufen hinausgingen.

Anbieter digitaler Rechtsprodukte passten beispielsweise ihr Leistungsspektrum in kürzester Zeit an die in der Krise erheblich zunehmende Mandantennachfrage in bestimmten Rechtsgebieten an. Von der Pandemie betroffenen Urlaubern, deren Pauschalreisen storniert und denen dahingehend vom Reiseveranstalter nur ein Gutschein erteilt wurde, wird von einem Legal Tech-Startup etwa ein Angebot zur sofortigen Auszahlung des überwiegenden Gutscheinwerts unterbreitet. Im Gegenzug findet eine Abtretung statt, indem der Gutschein an das Startup „verkauft“ wird. Dies ist nur ein Beispiel für zahlreiche ähnliche Angebote, mit denen der Anspruch des Mandanten an Schnelligkeit und Bequemlichkeit digital bedient wird.

Wie bereits erwähnt, schied daneben das persönliche Zusammentreffen der Legal Tech-Community im Krisenjahr weitgehend aus. Dennoch blieb die Szene in Kontakt, indem sie auf Online-Meetings auswich. In NRW wurde so beispielsweise das von Christian Solmecke und Frederick Assmuth seit 2017 regelmäßig ausgerichtete „Legal Tech-Meetup“ zwei Mal mit großem Erfolg virtuell veranstaltet, wie die mittlerweile 10. Ausgabe des NRW-Meetups im Dezember 2020 belegte. An ihr nahmen über Zoom rund 120 Techies teil. Gleichzeitig versammelten sich weitere 1.000 Interessenten in einem Facebook-Livestream. Ähnliche digitale Veranstaltungen wurden im gesamten Bundesgebiet ins Leben gerufen. Dennoch wünscht sich die stark wachsende Gemeinschaft natürlich möglichst bald wieder einen persönlichen Ideen- und Wissensaustausch. Vielleicht wird dies schon im Verlaufe des neuen Jahres 2021 wieder möglich sein.

Im Zuge dessen wird dann sicherlich auch wieder unter Anwesenden die aktuelle Rechtsprechung diskutiert, bei der im Jahr 2020 insbesondere das „smartlaw-Urteil“ des OLG Köln zu nennen ist. Die Entscheidung ist deshalb höchst wissenswert, weil der Senat in seiner dem BGH zur Revision vorgelegten Berufungsentscheidung keinen Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz sah, wenn über einen digitalen Vertragsgenerator Rechtsdokumente zu unterschiedlichen Rechtsgebieten generiert werden.

Frühjahr 2020: Gründung des „Legal Tech Verband Deutschland e. V.“

Besonders zu erwähnen ist außerdem die Gründung des „Legal Tech Verband Deutschland e. V.“ im Frühjahr 2020. Der neue Verband setzt sich zum Ziel, die Kluft zwischen Legal Tech-Unternehmen und der klassischen Anwaltschaft zu überwinden und tritt im Zuge dessen als Repräsentant der Legal Tech-Branche auf. Mittlerweile sind über 20 Legal Tech-Unternehmen, Kanzleien oder auch Rechtsschutzversicherungen mit an Bord. Zentrale Themen im Gründungsjahr waren eine Liberalisierung der anwaltlichen Vergütungsregelungen und die Schaffung eines RDG-Erlaubnistatbestands für außergerichtliche, nicht-anwaltliche Rechtsberatung, für die Rechtssicherheit geschaffen werden soll. Neben dieser Interessenvertretung auf politischer Ebene veranstaltet der Verband für seine Mitglieder regelmäßige Events zum Ideen- und Wissensaustausch. Bereits im Gründungsjahr stellten in diesem Zusammenhang Peer Schulz (helpcheck) und Dr. Benedikt M. Quarch (RightNow) ihre Unternehmen den Verbandsmitgliedern über Google Meet vor.

Referentenentwurf des BMJV zum Berufsrecht

Abschließend darf in einem ohnehin bereits ereignisreichen Jahres 2020 ein Blick auf den beachtlichen Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz zur Anpassung des Rechtsrahmens im Rechtsdienstleistungsrecht nicht fehlen, von dem weite Teile der Anwaltschaft zum Jahresende überrascht wurden. Der Entwurf mit der Bezeichnung „Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt“ kann mit diesem Jahresrückblick zwar nicht umfassend betrachtet werden. Dennoch soll der wesentliche Inhalt Erwähnung finden. Richtungsweisend ist demnach insbesondere die zu Gunsten von Anwältinnen und Anwälten beabsichtigte Erlaubnis zur Prozessfinanzierung und zur Vereinbarung von Erfolgshonoraren, die unter gewissen Voraussetzungen bis zu einem Streitwert von 2.000 Euro gesetzlich legitimiert werden soll. Anwältinnen und Anwälten wäre demnach das erlaubt, was Legal Tech-Anbieter mit Inkassolizenz bereits jetzt vollziehen. Die Geschäftsmodelle von Legal Tech-Unternehmen mit Inkassolizenz sollen zudem aus Verbraucherschutzgründen transparenter und verständlicher gestaltet werden. In der Anwaltschaft stieß der Entwurf auf ein geteiltes Echo. Insbesondere die BRAK und der DAV kritisierten ihn scharf. Im neuen Jahr 2021 steht somit eine spannende Debatte bevor.

Ein Ausblick: Führt die Krise zu einem nachhaltigen digitalen Wandel?

Im Ergebnis dürfte das erste Corona-Jahr den digitalen Wandel im Arbeitsalltag vieler Kanzleien erheblich beschleunigt haben. Eine nachhaltige Transformation der gesamten Branche war jedoch bereits vor der Pandemie unaufhaltsam vorangeschritten und wurde keinesfalls erst hierdurch in Gang gesetzt. Die Krise hat jedoch belegt, dass Kolleginnen und Kollegen, die sich diesem Wandel widersetzen oder darauf nicht eingestellt sind, unweigerlich durch den Markt überholt werden. Schließlich wird der Markt nicht durch die Strukturen der letzten Jahrzehnte bestimmt, sondern durch den Mandanten und dessen Bedürfnis nach Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Effizienz. Legal Tech und Digitalisierung werden sich deshalb auch im neuen Jahr weiter in der Anwaltschaft etablieren.

Bild: Adobe Stock/momius
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Tobias Reinhardt ist Rechtsanwalt, Programmierer, Legal Tech-Enthusiast und Gründer der JURANDO GmbH. Er realisiert seit 2001 internetbezogene Geschäftsmodelle. Sein Schwerpunkt liegt auf digitalen Rechtsprodukten, für die er sein technisches und juristisches Wissen kombiniert. Mehr im LinkedIn-Profil

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