Legal Tech im Strafrecht

Legal Tech im Strafrecht

eDiscovery, Legal Prediction und weitere Einsatzmöglichkeiten

Von Dr. Bettina Mielke

Der Einsatz von Legal Tech wird vor allem im Bereich des Zivilrechts diskutiert, sei es im Bereich der Geltendmachung von Verbraucherrechten etwa durch flightright.de oder wenigermiete.de sowie bei der Nutzung digitaler Technologien im modernen Zivilprozess beispielsweise durch Online-Klagetools. Weniger Beachtung findet Legal Tech im Strafrecht – doch auch hier gibt es einige spannende und interessante Anwendungsfelder. Der nachfolgende Beitrag soll diese näher beleuchten.

Analyse großer Datenmengen im Ermittlungsverfahren

Einsatz findet Legal Tech im Strafrecht bei der Analyse von großen Datenmengen, z. B. wenn in Korruptionsverfahren der gesamte Datenbestand eines großen Unternehmens beschlagnahmt wurde.

Die Ausgangsproblematik ist vergleichbar mit der Discovery im US-amerikanischen Zivilprozess, die die vollständige Offenlegung des entscheidungserheblichen Beweismaterials durch die Parteien zum Ziel hat. Dabei muss die Durchsicht und Bewertung aller dem Fall zugrundeliegender Dokumente erfolgen. Der Einsatz digitaler Techniken in diesem Bereich gilt als die killer application von Legal Tech in den USA. Der Begriff eDiscovery hat sich davon ausgehend allgemein auf die Analyse von großen Datenmengen ausgeweitet und bezeichnet Vorgehensweisen, bei denen Daten aufgefunden, gesichert und durchsucht werden, um diese als Beweismittel in zivil- oder strafrechtlichen Verfahren oder für sonstige Zwecke verwenden zu können.

Bei der Analyse großer heterogener Datenmengen wird das Wiederfinden relevanter Informationen durch eine Vielzahl von Umständen erschwert, z. B. durch schlechte Scan-Qualität, gelöschte oder verschlüsselte Dateien, durch unbekannte Datenformate, durch Spezialsoftware wie selbst programmierte Unternehmenssoftware ohne einheitliche Standards, aber auch durch Schreibfehler, Abkürzungen oder Zahlendreher.

Zunächst kommen forensische Arbeiten zur Sichtbarmachung gelöschter und verschlüsselter Dateien, zur automatischen Erkennung von passwort-geschützten Dateien, zur automatischen Extraktion und Verarbeitung von E-Mail-Containern, Anhängen oder ZIP-Datei-Inhalten zum Einsatz. Zudem sind gerade bei sichergestellten Daten in Strafverfahren oft keine oder nur wenig Informationen über die Daten vorhanden, was die Interpretation erschwert. In einem weiteren Schritt werden unterschiedliche Schreibweisen (des Datums, der Kontonummer, der Telefonnummer oder von Firmennamen), Tippfehler oder ähnliches normalisiert, also auf eine einheitliche Schreibweise gebracht, um das Wiederauffinden von relevanten Informationen zu erleichtern.

Für diese Tätigkeiten stehen vielfältige Software-Anwendungen zur Verfügung wie Nuix (genutzt für die Auswertung der Panama Papers), ZyLAB (beim Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien der Vereinten Nationen eingesetzt) oder watson discovery von IBM, das etwa bei einer bayerischen Generalstaatsanwaltschaft (testweise) zum Einsatz kam. Bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien findet das System m2n Anwendung, das über die genannten Methoden hinaus u.a. die Beziehungen zwischen Personen oder Organisationen offenlegen kann.

Unterstützung bei der Beweisaufnahme bzw. Beweiswürdigung

Der Einsatz von digitalen Werkzeugen kann zudem die Beweisaufnahme in Strafprozessen durch die Schaffung eines virtuellen Tatorts unterstützen. Der Tatort wird dabei durch 3-D-Scanner erfasst und als Virtual Reality-Modell nachgebildet, das auf dem Bildschirm bzw. durch Einsatz von Virtual-Reality-Brillen exploriert werden kann. Entsprechende Systeme sind bei Landeskriminalämtern bereits im Einsatz.

Eine andere denkbare Möglichkeit ist, mit Hilfe digitaler Tools widersprüchliche Beweise zu identifizieren, etwa durch einen automatisierten Vergleich von verschiedenen Zeugenaussagen oder Aussagen von Zeugen zu verschiedenen Zeitpunkten. Im Rahmen des „System 206“[1] werden in China Beweisstandards und Richtlinien für die Beweisführung zu den verbreitetsten Straftaten erarbeitet. Unter Verwendung von neuronalen Netzen, automatischer Sprachverarbeitung und anderer Technologien sollen große Datenmengen zur Bestimmung von Regelmäßigkeiten und verborgenen Zusammenhängen ausgewertet werden, u.a. zur Überprüfung aufgenommener Zeugenaussagen auf Widersprüche im Hinblick auf die gespeicherten Daten. Welchen Stand das Projekt hat und inwiefern es rechtsstaatlichen Erfordernissen entspricht, ist schwer abzuschätzen.

Im Rahmen neuer Technologien auf der Basis künstlicher Intelligenz (KI) wird derzeit auch der Einsatz KI-basierter Lügendetektoren zur Tatsachenfeststellung diskutiert. Die bisher bekannten Polygraphentests bestimmen vor allem den physiologischen Erregungsgrad eines Menschen durch Messung verschiedener Parameter, etwa des Pulses, während KI-basierte Lügendetektoren mit Video- und Stimmaufnahmen von Testpersonen trainiert werden, bei denen bekannt ist, ob sie die Wahrheit gesagt haben oder nicht. Derzeit gelten solche Verfahren als nicht verlässlich und sind zudem mit einem Blackbox-Effekt verbunden, der in Konflikt mit einer transparenten und nachvollziehbaren Beweiswürdigung im Urteil steht.[2]

Unterstützung bei der Strafzumessung

Ein Projekt unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski an der Universität zu Köln[3]  hat zum Ziel, mittels eines Tools, das aus Urteilen strafzumessungsrelevante Informationen extrahieren soll, eine Datenbank mit den ermittelten Strafzumessungserwägungen und der jeweiligen Strafhöhe in den Urteilen aufzubauen. Die Datenbank soll zur Transparenz der verhängten Strafen beitragen und die Richterinnen und Richter dabei unterstützen, das richtige Strafmaß zu finden. Derzeit gibt es einen Prototyp, der einzelne Strafzumessungserwägungen in Urteilen erkennen soll und Urteile danach durchsuchbar machen kann. Das Herausfiltern von Strafzumessungserwägungen aus Urteilen ohne Vorabkennzeichnung durch die Urteilspersonen ist allerdings alles andere als trivial. Verschärft wird dies dadurch, dass gemäß § 267 Abs. 3 StPO in Urteilen nur die Umstände angeführt werden müssen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind.

Legal Tech Magazin 4/22

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Legal Prediction

Unter legal prediction bzw. legal analytics versteht man die „juristische Variante“ von predictive analytics, die historische Daten heranzieht, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Solche Systeme sind zur Vorhersage zukünftiger Straftaten (predictive policing) genauso denkbar wie zur Prognose der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern oder zur Vorhersage des Ausgangs von Gerichtsverfahren.

Predictive Policing

Im Bereich des predictive policing werden Systeme zur Vorhersage von Wohnungseinbruchsdiebstählen oder Kfz-Diebstählen getestet (beispielsweise PRECOBS – Pre Crime Observation System), um Deliktkonzentrationen zu prognostizieren.

COMPAS

In einigen Bundesstaaten der USA erfolgen Prognosen zur Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern mit Hilfe von Softwareprogrammen. Große Bekanntheit hat das System COMPAS (Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions) des Unternehmens equivant (früher: Northpointe). Das System bildet auf der Grundlage von Interviews mit den betroffenen Personen und der Auswertung der Strafakte Metriken (scores), die das Rückfallrisiko darstellen sollen. Da Einzelheiten des Systems als Geschäftsgeheimnis geschützt sind, bleibt die genaue Arbeitsweise den Beteiligten verborgen. Nicht zuletzt deswegen ist dieses System sehr umstritten.

Entscheidungsvorhersagesysteme

Entscheidungsvorhersagesysteme, die Aussagen zum wahrscheinlichen Ausgang eines Verfahrens machen, sind auch im Bereich von Strafprozessen denkbar. Dass hierbei lediglich statistische Zusammenhänge deutlich werden, veranschaulichen Sorge/Krüger[4]. Sie legen dar, dass eine Genauigkeit von 97 % in sehr vielen Fällen als hervorragendes Ergebnis gelten dürfte. Soll beispielsweise der Ausgang einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht vorhergesagt werden, könnte man sogar eine noch größere Genauigkeit dadurch erzielen, dass in allen Fällen ein Misserfolg vorhergesagt würde, da der Anteil der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden seit 1995 durchgehend unter 3 % liegt. Dennoch könne man hier natürlich nicht von einem Erfolg dieses Ansatzes sprechen.

Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, Texte so zu repräsentieren, dass sie durch ein maschinelles Lernverfahren sinnvoll verarbeitet werden können. Als weiteres Problem werden u.a. die bisher mangelnde Verfügbarkeit einschlägiger Entscheidungen und die Schwierigkeiten der Prognose bei neuartigen Sachverhalten oder Gesetzesänderungen identifiziert. Das immer wieder beispielhaft herangezogene System[5] zur Vorhersage von Entscheidungen des US Supreme Court, das mit einer Genauigkeit von ca. 70 % vorhersagen kann, ob das Gericht die instanzgerichtliche Entscheidung bestätigen oder aufheben wird, nutzt zur Vorhersage vor allem formale Daten bzw. Metadaten, z. B. die Tendenz des Richters zur Aufhebung oder Bestätigung von Entscheidungen oder dessen politische Gesinnung.

Neben Verfahren des maschinellen Lernens, die bei legal prediction eine Rolle spielen, könnte man auch an den Einsatz „traditioneller“ KI denken, etwa durch die Schaffung von Expertensystemen.  Expertensysteme benötigen manuell eingegebenes symbolisches Wissen und Wenn-dann-Regeln, die für eine Anfrage ausgewertet werden. Die Skalierbarkeit von Expertensystemen ist jedoch allgemein enttäuschend, da es sich als sehr schwierig herausgestellt hat, größere Wissensbasen widerspruchsfrei zu erweitern (knowledge acquisition bottleneck). Dies gilt ebenso für Projekte im juristischen Kontext wie LEX (für Linguistik- und Logikbasiertes Expertensystem)[6] aus den 1980er Jahren zu einem Sachverhalt zu § 142 StGB, so dass derzeit nahezu ausschließlich auf maschinelle Lernverfahren gesetzt wird.

Nutzung von Korpuslinguistik im Strafrecht

Mit der Verfügbarkeit digitaler Textbestände wurde die Voraussetzung für korpuslinguistische Methoden auch für den strafrechtlichen Bereich geschaffen. Die Hoffnung ist, durch die Auswertung großer digitaler Textkorpora neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Es gibt in den USA bereits eine Vielzahl von Projekten, etwa zum Umgang des Supreme Court mit Lexika oder zum dortigen Schreibstil. Im Strafrecht könnten korpuslinguistische Analysen zur Bestimmung der Wortlautgrenze herangezogen werden, u.a. durch Nutzung des Deutschen Referenzkorpus[7], der weltweit größten Sammlung linguistisch aufbereiteter Sprachdaten des Deutschen.

Automatisierte Dokumenterstellung

Auch für den Strafprozess sind Anwendungsfälle für eine automatisierte Dokumenterstellung denkbar, beispielsweise bei der Formulierung von Anklagen oder Strafbefehlsanträgen bei Massendelikten wie der Trunkenheit im Verkehr oder beim Ladendiebstahl, indem die bereits seit langem gebräuchlichen Formulare weiterentwickelt und durch eine standardisierte Informationsweitergabe der Polizei an die Staatsanwaltschaften unterstützt werden. So könnte in einfach gelagerten Fällen zur Trunkenheit im Verkehr aus den übermittelten Daten zu Tatörtlichkeit, Tatzeit, dem geführten Fahrzeug und den gemessenen Blutalkoholwerten ein Vorschlag für einen Strafbefehlsantrag generiert werden, in den nur noch das zu beantragende Strafmaß einzutragen ist.

Fazit

Legal Tech-Anwendungen haben auch im Strafrecht viel Potenzial. Während einige der technischen Möglichkeiten in Deutschland oder im Ausland schon genutzt werden, bleibt bei anderen abzuwarten, ob sie sich durchsetzen werden. Es lohnt sich auf jeden Fall, die Entwicklungen weiter im Auge zu behalten.

[1] Vgl. Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz, Grundlagenpapier zur 74. Jahrestagung der OLG-Präsidentinnen und Präsidenten 2022, https://www.justiz.bayern.de, S. 34.

[2] Vgl. Victoria Ibold, Künstliche Intelligenz im Strafprozess – KI-basierte Lügendetektoren zur Tatsachenfeststellung?, ZSTW 2022, 504 ff.

[3] Vgl. https://www.legal-tech.de/smart-sentencing-legal-tech-in-der-strafzumessung/.

[4] Vgl. Christoph Sorge, Jochen Krüger, Die Vorhersage von Gerichtsentscheidungen – Methodische und inhaltliche Ausgangsüberlegungen, BRJ Sonderausgabe 01/2022, 13.

[5] Vgl. Daniel Martin Katz, Michael J. Bommarito II, Josh Blackman, A general approach for predicting the behavior of the Supreme Court of the Unites States, PLOS One 12(4) 2017, e0174698, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0174698.

[6] Vgl. Bettina Mielke, Bewertung juristischer Informationssysteme, 2000, S. 8.

[7]  DeReKo, https://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.html.

Bild: Adobe Stock/©Tierney
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Dr. jur. Bettina Mielke, M.A. ist Präsidentin des Landgerichts Ingolstadt und lehrt an der Universität Regensburg sowohl im Staatsexamensstudiengang als auch in den Studiengängen LL.M. Legal Tech und LL.B. Digital Law zu den Themen Digitalisierung und Recht, Logik sowie Legal Tech. Aufbauend auf ihrem Zweitstudium der Informationswissenschaft und Germanistik ist sie seit vielen Jahren im Bereich der Rechtsinformatik wissenschaftlich tätig. Sie war und ist zudem an Konzeption und Durchführung der Angebote zu Legal Tech / Digitalisierung und Recht im Referendariat in Bayern beteiligt.

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