In der deutschen Justiz gibt es derzeit eine Reihe von Projekten, bei denen Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt wird. Vom Einsatz in Massenverfahren, über die Analyse von Großverfahren bis hin zur automatischen Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen – die Möglichkeiten, die sich aus dem Einsatz von KI ergeben, sind vielfältig und haben großes Potenzial, die Gerichte zu entlasten.
Der folgende Beitrag möchte diese Projekte näher vorstellen und die unterschiedlichen Einsatzszenarien aufzeigen, in denen Methoden der KI die Arbeit am Gericht erleichtern und den Zugang zur Justiz für Bürgerinnen und Bürger verbessern können. Abschließend werden die Projekte in die KI-Landschaft eingeordnet[1].
Inhaltsverzeichnis
I. Einsatzbereiche von Künstlicher Intelligenz in der Justiz
- Massenverfahren
- Umfangsverfahren
- Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen
- Automatisiertes Auslesen von Metadaten
- Spracherkennung
- Unterstützung in der Strafrechtspflege
II. Einordnung der Projekte in die KI-Landschaft
III. Fazit
I. Einsatzbereiche von Künstlicher Intelligenz in der Justiz
Die derzeit laufenden Pilotprojekte der Justiz, die Künstliche Intelligenz einsetzen, lassen sich inhaltlich verschiedenen Bereichen zuordnen:
- Zunächst gibt es die Projekte, die sich der Unterstützung der Entscheiderinnen und Entscheider widmen. Hier sind es vor allem die sogenannten Massenverfahren, etwa im Kontext der Fluggastrechte oder des Dieselskandals, die so prominente Projekte wie FRAUKE oder OLGA zum Gegenstand haben und bereits im Echtbetrieb getestet werden.
- Andere Projekte sollen erleichterte Zugangsmöglichkeiten zu den Gerichten schaffen, z. B. durch Chatbots, die mithilfe maschineller Lernverfahren trainiert wurden oder beim Auslesen von Metadaten aus elektronischen Akten helfen und damit besonders die Arbeit auf den Geschäftsstellen unterstützen.
- Weitere Projekte haben die Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen im Blick – ist doch die Anonymisierung Voraussetzung für die Veröffentlichung von Entscheidungen und eine erhöhte Veröffentlichungspraxis wiederum Voraussetzung für eine verbesserte Auswertung gerichtlicher Entscheidungen und darauf aufsetzender Projekte.
- Weitere Einsatzfelder betreffen die Analyse großer Datenmengen in Ermittlungsverfahren sowie die Spracherkennung.[2]
Im Folgenden sollen Projekte aus diesen Bereichen vorgestellt werden, bei denen Komponenten enthalten sind, die der KI zugeordnet werden können. Nicht alle Digitalisierungsprojekte an Gerichten arbeiten mit Künstlicher Intelligenz. Hier nicht berücksichtigt werden daher Projekte zur digitalen Klageeinreichung, zur software-gestützten Strukturierung des Parteivortrags im Zivilprozess u. Ä., bei denen keine Methoden der KI eingesetzt werden.
1. Massenverfahren
Künstliche Intelligenz in der Justiz kommt zum Beispiel bei Massenverfahren zum Einsatz. In diesem Bereich sind vor allem Projekte zur Bewältigung von Verfahren im Kontext der Fluggastrechte und des Dieselskandals zu nennen. Bekannt sind OLGA und FRAUKE, aber es gibt auch andere Projekte, die etwa Software des Legal-Tech-Start-ups Codefy einsetzen.
Mithilfe von OLGA (Akronym für OberLandesGerichts-Assistent[3]) werden am OLG Stuttgart in anhängigen Dieselverfahren die Berufungsbegründungen und -erwiderungen sowie die angegriffenen Urteile erster Instanz u. a. danach analysiert, welches Modell, welcher Motortyp, welche Abgasnorm betroffen sind und ob ein Rückruf erfolgt ist. Die Verfahren können nach diesen Kategorien sortiert werden, um gleich gelagerte Fälle gemeinsam zu bearbeiten.[4]
FRAUKE (Akronym für FRAnkfurter Urteils-Konfigurator, Elektronisch[5]) wurde am Amtsgericht Frankfurt a. M. in Zusammenarbeit von IBM und Richterinnen und Richtern entwickelt, um die Vielzahl dort eingehender Verfahren zu den Fluggastrechten besser bewältigen zu können. Das System ist in der Lage, automatisch relevante Falldaten wie Start- und Zielflughafen oder die Flugentfernung aus den Schriftsätzen zu extrahieren. Lästige Copy-and-paste-Arbeiten lassen sich so vermeiden. Die Grundlage bildet ein vortrainiertes Basismodell, das an den Sprachgebrauch in diesen Verfahren weiter angepasst wurde.
Sowohl bei OLGA als auch bei FRAUKE kommen Methoden des maschinellen Lernens zur Extraktion von Entitäten mittels der Watson-Technologie der Firma IBM zum Einsatz, also Verfahren, die zur KI gezählt werden können. Soweit FRAUKE zudem regelbasiert passende Urteilsbausteine vorschlägt, nachdem die Richterinnen und Richter ihre Entscheidung getroffen haben, z. B. in Form der Klageabweisung, da schlechte Wetterbedingungen die Flugverspätung verursacht haben, handelt es sich (noch) nicht um KI, sondern um eine einfache regel- bzw. algorithmenbasierte Anwendung (siehe unten).
Im Bereich der sogenannten Massenverfahren wird zudem die Software des Start-up-Unternehmens Codefy erprobt: Seit 2022 wird die Software am LG Ingolstadt für die Bearbeitung von Dieselverfahren getestet, seit Juli 2023 findet eine Erprobung in Hessen an den Landgerichten Frankfurt a. M. und Hechingen statt.[6] Mithilfe der Software, die über ein KI-unterstütztes Strukturierungs- und Durchsuchungstool verfügt, sollen Verfahren durch eigenständig von den Richterinnen und Richtern zu konfigurierende KI-Prüfassistenten und Textbausteine aufbereitet und strukturiert werden.[7]
Auch in Niedersachsen hat das dortige Justizministerium die Entwicklung eines KI-gestützten Systems zur Hilfe bei gleich gelagerten Fällen beauftragt, das seit Mai 2023 für erste Tests zur Verfügung steht. An den Landgerichten Hildesheim und Osnabrück wird das System erprobt. Als Trainingsgrundlage werden die von den nutzenden Richterinnen und Richtern getroffenen Verfügungen und Entscheidungen herangezogen, die dazu dienen, einen persönlichen Assistenten zu individualisieren. Die Assistenz soll dabei für jede Art von Massenverfahren trainiert werden können.[8]
2. Umfangsverfahren
Dass die Werkzeuge, die in Massenverfahren der Unterstützung von Richterinnen und Richter dienen, ebenso für Umfangsverfahren potenziell nützlich sein können, liegt auf der Hand. So wird die Software von Codefy am LG Frankfurt a. M. an zwei Zivilkammern und einer Wirtschaftsstrafkammer getestet.[9] Eine weitere Anwendung wird durch das niedersächsische Justizministerium mit dem Ziel einer schnelleren Aktendurchdringung erprobt.[10] Mit der Watson-Technologie der Firma IBM gab es ebenfalls bereits Projekte zur besseren Strukturierung von umfangreichen Verfahren.[11] Diese Art von Technologie kann dabei sowohl bei zivilrechtlichen wie auch strafrechtlichen Verfahren von Nutzen sein.[12]
3. Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen
Ein häufiges Einsatzgebiet von Künstlicher Intelligenz in der Justiz stellen Verfahren zur Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen dar. Hintergrund ist, dass man sich durch eine Erleichterung bei der Anonymisierung eine erhöhte Veröffentlichungsrate von Entscheidungen erhofft. Mittlerweile liegen alle Entscheidungen in digitaler Form vor. Eine deutlich weitergehende Veröffentlichungspraxis als bisher gerade an den unteren Instanzen scheitert aber u. a. an dem Aufwand, den eine Anonymisierung von Hand mit sich brächte. Derzeit geht man von einer Veröffentlichungsquote von ein bis fünf Prozent aus.[13] Ein gemeinsames Projekt des bayerischen Justizministeriums und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat die Entwicklung eines Anonymisierungstools auf der Grundlage des Deep-Learning-Sprachmodells GOTTBERT zum Gegenstand, wobei ein so hoher Grad an Korrektheit erreicht werden soll, dass eine Nachbearbeitung unnötig wird.[14]
Ein weiteres Projekt zur Anonymisierung startete im September 2023 in Baden-Württemberg und Hessen. Der Prototyp JANO, der von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der baden-württembergischen und hessischen Justiz zusammen mit einem IT-Unternehmen entwickelt wurde, durchsucht die Entscheidungen nach personenbezogenen Daten und schlägt diese zur Anonymisierung vor. Die Vorschläge der KI werden anschließend durch Justizbeschäftigte geprüft und freigegeben. Hierdurch soll mit erheblich geringerem Aufwand eine Anonymisierung von Entscheidungen erfolgen können.[15]
4. Automatisiertes Auslesen von Metadaten
Seit 2019 gibt es in Rheinland-Pfalz das Projekt SMART (Semantische Metadatengewinnung und Textanalyse), das zum Ziel hat, die zur E-Akte eingehenden PDF-Dokumente mittels KI-Einsatzes weitgehend automatisiert zu kategorisieren (z. B. als Klageschrift, Akteneinsichtsgesuch etc.), sinnvolle Dokumenttrennungen etwa durch Abtrennung von Anlagenkonvoluten vorzunehmen oder Metadaten wie die Beteiligtennamen, die Klageart oder den Streitwert zu extrahieren.[16] Seit Juni 2023 wird das System auch in Bayern getestet.[17]
Bei dem dritten nach FRAUKE und OLGA mit einem Frauennamen benannten Projekt FRIDA (für Frankfurter Regelbasierte Intelligente Dokumentenerstellungs-Assistenz) handelt es sich um einen Software-Prototyp, der bei Verfahren aus dem Bereich Verkehrsordnungswidrigkeiten beim Amtsgericht Frankfurt a. M. im Einsatz ist. Er kann relevante Daten aus den Akten auslesen und automatisiert Entwürfe von Protokollen, Urteilen und Beschlüssen erstellen. Das Auslesen erfolgt anhand fester Suchkriterien,[18] sodass fraglich ist, ob tatsächlich KI zum Einsatz kommt.
5. Spracherkennung
Eine Reihe von Projekten hat die Verbesserung der Spracherkennung zum Ziel, sei es zur effizienteren Erstellung von Protokollen in Zivilprozessen genauso wie zur Verbesserung der Verschriftlichung von Vernehmungen von Opfern von Straftaten[19] oder zur maschinellen Übersetzung[20]. Die maschinelle Spracherkennung als Speech to text-Technologie hat nach Jahrzehnten der Entwicklung einen hohen Reifegrad erreicht und ist produktiv einsetzbar. Interessant ist hier vor allem der Einsatz verbesserter Sprachtechnologie für die Entwicklung eines Chatbots zur Unterstützung von Rechtsantragsstellen.[21]
6. Unterstützung in der Strafrechtspflege
Ein gemeinsames Projekt der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen bei der Generalstaatsanwaltschaft Köln, der Universität des Saarlands und Microsoft Deutschland hat zum Ziel, unter Einsatz von maschinellen Lernverfahren ein System zu entwickeln, um kinder- und jugendpornografische Bildinhalte zu identifizieren und automatisiert zu klassifizieren.[22] Ähnliches hat ein gemeinsames Projekt der bayerischen Justiz zusammen mit Forschern und Forscherinnen aus den Niederlanden im Hinblick auf die Durchsuchung des Darknets zum Ziel.[23] Ein anderes Projekt untersucht, inwieweit Verfahren des maschinellen Lernens zur effizienten Identifikation auffälliger Finanztransaktionen beitragen können.[24]
Das Projekt Smart Sentencing, das mit Methoden des maschinellen Lernens strafzumessungsrelevante Aspekte aus Strafurteilen extrahieren soll, wird an der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssystem durchgeführt. Daraus soll eine Datenbank mit verhängten Strafen und den dazu gehörigen Strafzumessungsaspekten aufgebaut werden, die dabei helfen soll, sich einen Überblick über die bundesweit verhängten Sanktionen zu verschaffen.[25]
Im weiteren Sinn auch zur Strafrechtspflege ist das Forschungsprojekt „Ereignisgesteuerte Videoüberwachung mit automatisierter Situationseinschätzung als Instrument der Suizidverhinderung in Justizvollzugsanstalten (EVAS)“ zu zählen. Hier soll der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Justizvollzugsanstalten dabei unterstützen, Suizide von Gefangenen zu erkennen bzw. zu verhindern. Im Rahmen des Projekts wurde aufgrund von Erfahrungen bei der Suizidprävention ein lernendes Assistenzsystem entwickelt, das automatisiert auf Bildern der Videobeobachtung Situationen identifiziert, die auf ein geplantes Suizidvorhaben hindeuten könnten. Das System ist derzeit noch zu unzuverlässig, um eine Inbetriebnahme zu ermöglichen, so die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten vom 25. August 2023. Über den Fortgang des Projekts werde noch entschieden.[26]
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II. Einordnung der Projekte in die KI-Landschaft
Der Begriff der KI ist vielgestaltig und schillernd, eine einheitliche Definition existiert nicht. Aufgrund der Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen „einfachen“ algorithmischen Systemen und KI-Systemen hat sich die Arbeitsgruppe, die das Grundlagenpapier zum Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz verfasst hat, unter anderem auf Anregung der Autorin, bewusst dafür entschieden, sich nicht auf KI-Anwendungen zu beschränken, sondern alle algorithmischen Systeme zu erfassen, die der Unterstützung in der Justiz dienen.
Grundsätzlich ist die Einordnung der verschiedenen Projekte hinsichtlich des tatsächlichen Anteils an Technologien der Künstlichen Intelligenz nicht einfach. Dies liegt daran, dass teilweise nur wenig über die Projekte bekannt ist oder kommerzielle Software eingesetzt wird, deren genaue Funktionsweise als Geschäftsgeheimnis nicht offengelegt wird. Hinzu kommt, dass es sich teilweise um Projekte der Justizverwaltungen handelt, über die wenig publiziert wird. Gleichzeitig hat sich der Gebrauch des Begriffs Künstliche Intelligenz in den vergangenen Jahren erheblich gewandelt und ausgeweitet. Dominierte bis vor einigen Jahren hinsichtlich Künstlicher Intelligenz noch das Paradigma der wissensbasierten Systeme (Expertensysteme, planbasierte intelligente Interaktion, Nutzung formaler Logik), so sind mit der dramatischen Erhöhung der Verfügbarkeit digitaler Daten Systeme des maschinellen Lernens auf statistischer Basis sowie in ihrer Leistungsfähigkeit erheblich gesteigerte künstliche neuronale Netze zur zentralen Technologie hinter dem Begriff Künstliche Intelligenz geworden. Für ein textorientiertes Handlungsfeld wie das Rechtswesen erscheinen gerade die großen Sprachmodelle, die durch ChatGPT plötzlich einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden sind, als besonders vielversprechend. Die bekannten und viel diskutierten Probleme (Halluzinieren; Datenbestand, der notwendigerweise vergangenheitsbezogen ist; vielfältige Formen von Verzerrungen (bias)) müssen allerdings überwunden werden, bevor an einen Einsatz im Rechtswesen ernsthaft zu denken ist. Es erscheint auch unklar, ob und wie sich die Welt der expliziten Wissensrepräsentation und logikbasierter Schlussfolgerungen mit der statistischen Datenanalyse so vereinen lässt, dass im Ergebnis die wechselseitigen Schwächen ausgeglichen werden können. Ein Einsatz von ChatGPT oder anderer Sprachmodelle ist bei den oben beschriebenen Projekten (bislang) nicht vorgesehen.
III. Fazit
In der Gesamtschau ergibt sich ein heterogenes Bild: Einige Projekte der Justiz, die Künstliche Intelligenz einsetzen, bieten bereits einen klaren Mehrwert (oft bei gleichzeitig sehr fokussierter Funktionalität) oder werden diesen wohl bald erreichen. In anderen Bereichen stehen die Überlegungen (und die Projekte) noch am Anfang. Es handelt sich um ein Entwicklungsfeld, das sich in jedem Fall weiterzuverfolgen lohnt. Auffallend ist, dass derzeit eine Verzahnung der verschiedenen Projekte und ihrer Teilnehmer nur in Ansätzen zu erkennen ist.
Der Beitrag stammt aus dem Legal Tech-Magazin:
„Künstliche Intelligenz in der Justiz“
Dr. jur. Bettina Mielke, M.A. ist Präsidentin des Landgerichts Ingolstadt und lehrt an der Universität Regensburg sowohl im Staatsexamensstudiengang als auch in den Studiengängen LL.M. Legal Tech und LL.B. Digital Law zu den Themen Digitalisierung und Recht, Logik sowie Legal Tech. Aufbauend auf ihrem Zweitstudium der Informationswissenschaft und Germanistik ist sie seit vielen Jahren im Bereich der Rechtsinformatik wissenschaftlich tätig. Sie war und ist zudem an Konzeption und Durchführung der Angebote zu Legal Tech / Digitalisierung und Recht im Referendariat in Bayern beteiligt.