Wissens-Silos

Kommentar: Warum Wissens-Silos der Digitalisierung schaden

Von Tom Braegelmann

Die Akteure der blühenden Legal Tech-Landschaft bunkern sich in ihre eigenen Wissens-Silos ein, statt zugunsten von Anwendern miteinander zu kooperieren. Welche Folgen dies vor allem für kleine bis mittelgroße Kanzleien hat, erklärt Rechtsanwalt und Branchenkenner Tom Braegelmann im Kommentar.

Ungeteiltes Wissen sorgt für Ineffizienz

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Silos – abgeschirmte Wissenseinheiten, die unkoordiniert und ohne Austausch nebenher arbeiten – im Geschäftsleben ein Todesstoß für jegliche Innovation sein können. Eine Silomentalität schadet, weil dann Menschen, Abteilungen oder Organisationen ihr Wissen nicht mit anderen teilen wollen. Silos in diesem Sinne sind echte Grenzen (physisch oder durch technologische Mittel), die das Wissen getrennt und exklusiv halten – und das ist schlecht, weil es nicht nur ineffizient ist, sondern den freien Ideenfluss eindämmt und somit zum geschäftlichen Misserfolg führen kann.

Die Legal Tech-Landschaft wird immer unübersichtlicher

Leider verläuft die derzeit blühende Landschaft aus Legal Tech/Law Tech-Startups, die zunehmende Flut von Legal Tech-Finanzierungsrunden, der Aufstieg von Law Companies, der zunehmende Einsatz von Legal Processing Technology und der immer stärkere Einsatz moderner Software (KI, Blockchain, etc.) im Rechtsverkehr weitgehend unkoordiniert. Das macht die Rechtsberatungsbranche anfällig für die Schaffung neuer Silos. Darunter leiden werden vor allem die kleinen bis mittelgroßen Kanzleien, da sie in der Regel nicht genügend Kapazitäten haben, um sich mit den Technologien auseinanderzusetzen.

Die Branche braucht eine Art Austausch-Plattform

Als konkretes Beispiel für diese negative Entwicklung bieten sich die zahlreichen Legal Tech-Softwarelösungen an: Wie soll man die vielen leistungsstarken Programme nutzen, wenn sie nicht aufeinander abgestimmt sind? Aktuell stehen wir vor einer Legal Tech-Landschaft, die mit Hightech-Silos übersät ist. Es gibt kein übergreifendes „Legal Tech-Dashboard“ nach dem Vorbild von Office 365 oder Google Docs, auf dem Wissen geteilt, ausgetauscht und diskutiert werden kann.

Inkompatibilität hemmt Digitalisierung

Aber nur mit einem solchen demokratischem Dashboard, welches neue Tools (Kira, Leverton, Ross, Lawlift, LegalZoom, SmartLaw, RocketLawyer etc.) bündeln würde und mit den leistungsstarken traditionellen Rechtssoftwarelösungen wie z. B. Rechtsdatenbanken, E-Discovery und Datenräumen zu einem Ganzen zusammenfügt, könnten Leiter von Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien guten Gewissens ihren Partnern und Mitarbeitern noch eine weitere Runde von Softwaretools zumuten. Bereits jetzt ächzen sie unter dem Joch der ständigen Digitalisierung. Vor allem kleine bis mittelgroße Kanzleien haben weder die Kapazitäten noch die Zeit, sich im „Wirrwarr“ unterschiedlicher Tools und Lösungen zurechtzufinden. Oft scheitert ein Digitalisierungsprojekt daran, dass zwei unterschiedliche Programme, die in einer Kanzlei genutzt werden wollen/sollen, nicht miteinander kompatibel sind. Daten können entweder nicht übertragen werden oder lassen sich nicht in die Logik einer neuen Software übersetzen.

Wenn diese unabsichtlich geschaffenen Legal Tech-Silos zu mächtigen Lösungen heranwachsen, aber weiterhin immer schwieriger zu vereinbaren, zu synchronisieren und zusammenzuschalten sind (aufgrund von SaaS-Lösungen, die nicht kommunizieren können; nicht standardisierten Datenformaten etc.), kann dies die Einführung von Legal Tech in großem Umfang verhindern. Das ist schlecht, denn Legal Tech kann sowohl den Zugang zur Justiz für alle verbessern, die Rechtskosten senken und das Justizwesen beschleunigen, ohne die Rechtsstaatlichkeit zu beeinträchtigen (zumindest das ist die Hoffnung).

Wissens-Silos sorgen für immensen Schulungsaufwand

Natürlich sind Silos das Ergebnis eines freien Wettbewerbs – möge die beste Legal Tech-Lösung für jeden Anwendungsfall obsiegen! Aber die daraus resultierende Legal Tech-Silo-Mentalität kann alles verlangsamen und der allgemeinen Einführung von Legal Tech entgegenwirken. Und das wäre doch schade! Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen werden sich weigern, mehrere verschiedene Arten von Softwarelizenzen für Legal Tech-Tools zu kaufen, wenn jedes in seinem eigenen Exzellenzsilo versteckt, nicht in der Lage ist, ordnungsgemäß mit dem Rest des Legal Tech-Ökosystems zu kommunizieren.

Auf diese Weise wird die Transformation des Rechtsmarktes durch Legal Tech bald ins Stocken geraten. Hinzu kommt der zusätzliche Stress, den neue Softwaretools auf die Menschen in jedem Unternehmen ausüben. Schließlich müssen auch sie geschult und an die neuen Arbeitsabläufe gewöhnt werden. Stellen Sie sich vor, Sie müssten dies Ihren Kollegen zehn bis 20 Mal gleichzeitig antun, weil Sie eine ganze Reihe von funkelnden Legal Tech-Leistungen für Ihre Kanzlei zur Verfügung haben wollen. Das macht doch hoffentlich keiner! Abgesehen vom personellen Aufwand kann es sich keine mittelständische Anwaltskanzlei leisten, in mehrere Software-Lösungen gleichzeitig zu investieren.

Grenzen sind Gift für Wissensbranchen

Ein Silo ist ein hoher Zylinder (aus Holz oder Beton), der normalerweise luftdicht verschlossen ist und zur Herstellung und Lagerung von Silage verwendet wird (d. h. Pflanzen – wie Heu oder Mais –, welche durch anaerobe bakterielle Gärungsprozesse in saftiges Futter für Nutztiere umgewandelt werden). Wenn man also in der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion tätig ist, sind Silos eigentlich gut und nützlich. Doch Legal Tech ist nicht die Landwirtschaft. Abgetrennte Bereiche und Grenzen sind – sowohl in physischer als auch mentaler Hinsicht – in einer von Wissen geprägten Legal Tech-Branche wie eine Dürreperiode in der Landwirtschaft.

Foto: Adobe Stock/Gandolfo Cannatella
tom braegelmann
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Tom Braegelmann ist Rechtsanwalt bei der Kanzlei Annerton. Er ist ein international erfahrener Insolvenz- und Restrukturierungsexperte, war zuvor für namhafte Wirtschaftskanzleien tätig und ist sowohl in Deutschland als auch in den USA als Anwalt zugelassen. Als Anwalt mit Schwerpunkt auf Bankruptcy Law/Insolvenz- und Urheberrecht war er über drei Jahre in New York tätig. Tom Braegelmann ist bestens vertraut mit den neuesten technologischen juristischen Entwicklungen, insbesondere mit der Digitalisierung des Wirtschafts-, Restrukturierungs- und Insolvenzrechts. Darüber hinaus hat er als weiteren Schwerpunkt seiner Beratung moderne digitale Geschäftsmodelle.

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