Von Dr. Philipp Plog
Es gibt sie zwar, sehr vereinzelt: Deutsche Gerichte, die schon digital und papierlos arbeiten. Doch insgesamt steht Deutschland noch vor einem weiten Weg, wenn es um digitale Justiz geht. Zu diesem Schluss kommt auch die neue Studie „The Future of Digital Law“, durchgeführt von der Boston Consulting Group, der Bucerius Law School und dem Legal Tech-Verband Deutschland. Die Studie zeigt aber nicht nur den aktuellen Stand der Digitalisierung der deutschen Justiz auf, sondern bietet auch konkrete Lösungsansätze: Wie kann die Digitalisierung in Deutschland vorangetrieben werden? Was kann Deutschland sich von anderen Ländern abschauen? Was sind die größten Herausforderungen? Wir haben Dr. Philipp Plog, Vorstandsvorsitzender des Legal Tech-Verbands Deutschland, zu den wichtigsten Erkenntnissen aus der Studie interviewt.
Herr Dr. Plog, was war der ausschlaggebende Grund, die Studie „The Future of Digital Justice“ durchzuführen? Was möchten Sie mit den Ergebnissen erreichen?
BCG und Bucerius haben bereits in der Vergangenheit Studien zum deutschen Rechtsmarkt veröffentlicht. Als die neue Studie zum Thema Digitalisierung geplant wurde, war klar, dass wir als Legal Tech Verband Deutschland mitwirken möchten.
Ziel der Studie war es erstmals einen internationalen Vergleich mit den führenden Ländern in diesem Bereich abzubilden, um Referenzpunkte zu schaffen und die deutsche Debatte zu öffnen – denn viele aktuelle Herausforderungen treffen ja nicht nur Deutschland
Die Ergebnisse sprechen eine klare Sprache und rütteln wach. Durch den internationalen Vergleich zeigen wir aber auch konkrete Lösungsansätze, die wir nun auf Deutschland übertragen möchten.
Deutschland verfügt über die nötige Wirtschaftskraft, um in langfristige Entwicklungen zu investieren. Gleichzeitig sehen die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer die Finanzierung der digitalen Justiz als eine große Herausforderung. Wieso stellt die Digitalisierung der Justiz keine Priorität dar, in die Investitionen getätigt werden? Was muss sich ändern?
Die Auswirkungen einer unzureichenden Digitalisierung der Justiz sind lange unterschätzt worden. Die Studie zeigt, dass es vielen Akteur:innen in der Justiz bisher an Ehrgeiz für eine digitale Transformation gemangelt hat. Jetzt, wo die Konsequenzen deutlich spürbar sind – ich denke da zum Beispiel an die zunehmende Dauer der Verfahren (bei abnehmenden Fallzahlen), sinkendes Vertrauen in den Rechtsstaat und die zunehmende Flucht in privatisierte Konfliktlösungssysteme von PayPal und eBay – steht das Thema endlich oben auf der politischen Agenda, auch getrieben von der Überlastung und Unterfinanzierung einiger deutscher Gerichte. Der „Digitalpakt für die Justiz” ist im Koalitionsvertrag verankert und der Druck seitens vieler Akteur:innen am Rechtsmarkt nimmt zu. Jetzt werden hoffentlich die Hebel umgelegt auf „im Zweifel digital”.
Als eine weitere Herausforderung wird gesehen, dass viele Mitarbeitende an Gerichten technischen Neuerungen skeptisch gegenüberstehen und eventuell sogar Angst haben, durch die Digitalisierung ihren Job zu verlieren. Wie kann diese Angst genommen werden?
Die Nationen, die im Bereich der digitalen Justiz weltweit führend sind, sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie ihre Mitarbeitenden für die Digitalisierung gewinnen und Ihnen die Vorteile anhand von erfolgreichen Projekten aufzeigen. Digitalisierung geschieht von Beginn dort, wo sie gebraucht wird. Fach- und Organisationswissen der Mitarbeitenden fließt unmittelbar ein, was die Erfolgsquote erhöht. Der Schlüssel liegt also auch darin, Ängste ernst zu nehmen und deutliche Anreize in Richtung Digitalisierung zu schaffen.
In der Studie werden Österreich, Kanada, Großbritannien und Singapur als Vorreiterstaaten der digitalen Justiz genannt. Was kann sich Deutschland von diesen Ländern abschauen?
Die Justiz in Singapur und Großbritannien arbeitet sehr digital. Singapur nutzt ein einheitliches und lückenloses Online-Fallverwaltungssystem für alle Gerichtsbarkeiten, über das alle Beteiligten miteinander und mit den Gerichten und anderen staatlichen Stellen kommunizieren. Großbritannien ist sehr stark in der Erfassung von Daten, mit denen Gerichte verbessert werden können. Dies gelingt durch ein digitales Fallmanagementsystem an den Gerichten, mit denen zum Beispiel Fallzahlen und -dauer erfasst werden. Diese Daten führen zu einem besseren Verständnis der Bedürfnisse der Beteiligten, einer Effizienzsteigerung in der Verwaltung und verkürzen inzwischen sogar die durchschnittliche Verfahrensdauer. Beide Systeme könnten auf Deutschland übertragen werden.
Die föderal organisierten Nationen Kanada und Österreich haben außerdem bewiesen, dass der in Deutschland häufig als Grund für die stockende Digitalisierung aufgeführte Föderalismus keineswegs ein Hindernis für Fortschritt und Digitalisierung sein muss.
In beiden Nationen gibt es sehr erfolgreiche regionale Leuchtturmprojekte. Auch der Einsatz von sogenannten Reallaboren hat sich als Erfolg erwiesen.
Die Studie zeigt eine Vision auf, wie die digitale Gerichtsbarkeit aussehen könnte: Rechtsstreitigkeiten werden online eingeleitet, Informationen werden vollständig digital ausgetauscht, künstliche Intelligenz wird zur Unterstützung der Verfahren eingesetzt. Aber ganz realistisch betrachtet: Wo könnte die Digitalisierung der Justiz in Deutschland in zehn Jahren stehen?
Zu Beginn muss sich Deutschland das Ziel setzen, eine führende Rolle im Bereich der digitalen Justiz zu übernehmen. Klar definierte Führungsstrukturen – idealerweise auf Ministerebene – sind dabei unerlässlich. Es müssen erhebliche Haushaltsmittel bereitgestellt und mehrjährige Beschaffungsverfahren neu konzipiert werden. Die Umsetzung könnte sich an drei Elementen orientieren: der Steigerung der Effizienz der Gerichte, einschließlich der Beschleunigung von Verfahren; einem klaren Bekenntnis zur Nutzerorientierung, einschließlich moderner Software und Prozessentwicklung; und einer zeitnahen Einführung von Datenanalyse, um die relevanten Informationen zur Ermittlung und Lösung der dringendsten Probleme bereitzustellen.
Wenn Deutschland seine derzeitige Digitalisierungsstrategie fortsetzt, werden wir womöglich die nächsten Jahre mit der Digitalisierung bestehender Gerichtsverfahren und der Verbesserung bestehender Lösungen verbringen. Damit sorgen wir aber weder für einen besseren Zugang zum Recht, noch steigern wir die Effizienz oder setzen neue Technologien sinnvoll ein.
Ein Weitermachen wie bisher ist daher keine gute Option. Wenn wir aber die drei genannten Elemente umsetzen, können wir den aktuellen Rückstand von rund zehn Jahren auf die führenden Nationen aufholen.
Vielen Dank für das Interview!