Von Benedikt Windau
Bereits am 05.12.2020 fand ein Video-Roundtable zur Digitalisierung des Zivilprozesses statt, organisiert von der Universität Bonn und dem ZPO-Blog. Anlass des Roundtables war die Veröffentlichung eines Thesenpapiers der von den OLG-Präsidenten eingesetzten Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses. Die Arbeitsgruppe hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die rechtlichen Grundlagen in der ZPO einer Überprüfung zu unterziehen und den bestehenden Reform- und Digitalisierungsbedarf aufzuzeigen. Die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Roundtable gibt es in diesem Beitrag im Überblick.
Die Teilnehmer*innen des Roundtables:
- Thomas Dickert, Präsident des OLG Nürnberg und Vorsitzender der Arbeitsgruppe
- Dr. Gisela Rühl, LL. M. (Berkeley) von der Humboldt-Universität Berlin
- Dr. Philipp Reuß, MJur (Oxford) - Moderation
Was plant die Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses?
Zu Beginn der Veranstaltung stellte Dickert die Arbeitsgruppe vor: Diese sei von den OLG-Präsidenten bei deren 71. Jahrestagung eingesetzt worden, um eine Reform des Zivilprozessrechts vorzubereiten und Zivilprozesse bürgerfreundlicher, effizienter und ressourcenschonender zu gestalten. Mitglieder der Arbeitsgruppe waren 40-50 Richter*innen von Amtsgerichten, Landgerichten und Oberlandesgerichten.
Gegenstand der Arbeitsgruppe seien insgesamt sechs Themenbereiche gewesen:
- Der Zugang der Bürger*innen zur Ziviljustiz soll erleichtert werden. Dazu müssten die sog. sicheren Übermittlungswege (vgl. § 130a ZPO) erweitert, ein Bürgerzugang über ein Online-Portal ermöglicht und virtuelle Rechtsantragstellen eingerichtet werden. Außerdem soll ein „echtes Online-Mahnverfahren“ eingeführt werden.
- Der elektronische Rechtsverkehr soll optimiert werden, u. a. indem die Zahl der Teilnehmer*innen erweitert, das Telefax abgeschafft und ein elektronischer Nachrichtenraum eingeführt wird, in dem beispielsweise Termine abgestimmt werden können.
- Neu eingeführt werden soll ein beschleunigtes Online-Verfahren für Streitwerte bis 5.000 Euro. Das Verfahren soll durch intelligente Eingabe- und Abfragesysteme den Parteivortrag strukturieren; mündliche Verhandlungen sollen nur in Ausnahmefällen und dann im Wege der Videokonferenz stattfinden.
- Auch unabhängig davon soll der Parteivortrag künftig in einem elektronischen sog. „Basisdokument“ in Tabellenform abgebildet werden, auf das beide Parteien und das Gericht Zugriff haben.
- Erweitert und optimiert werden sollen außerdem die Möglichkeiten der Videoverhandlung und ihrer Protokollierung, dazu soll auch dem Gericht ermöglicht werden, sich im Büro oder im Homeoffice aufzuhalten.
- Gestärkt werden soll zudem die Transparenz des Verfahrens, indem in viel größerem Umfang als bislang gerichtliche Entscheidungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Die Arbeitsgruppe sei bewusst zunächst ein Projekt aus der richterlichen Praxis. Auch das von der Arbeitsgruppe erarbeitete (und übrigens inzwischen veröffentlichte) Diskussionspapier solle deshalb zunächst im Rahmen eines Zivilrichtertages in einem größeren Kreis von Richter*innen diskutiert werden, um dazu eine Willensbildung innerhalb der Richterschaft zu ermöglichen. Danach sollten die Thesen auch breit mit der Anwaltschaft und Wissenschaft diskutiert werden.
Online-Verfahren in anderen Ländern bereits Realität
An diese Einführung von Dickert schloss sich ein Impulsvortrag von Prof. Rühl zum Vorschlag eines einheitlichen elektronischen Bürgerzugangs an. Es sei eines der größten Probleme der Justiz, dass sie für den rechtssuchenden Bürger ohne anwaltliche Vertretung nur schwierig zugänglich sei. Der Gesetzgeber habe den elektronischen Zugang zu Gericht bislang vor allem den professionellen Verfahrensbeteiligten ermöglicht, wie auch die Regelung in § 130a ZPO zeige.
Gleichzeitig zeigten reine Online-Verfahren in anderen Ländern, dass es möglich sei, auch staatliche Gerichtsverfahren vollständig online abzuwickeln.
Eine besondere Herausforderung werde voraussichtlich die Umsetzung gerade im Bereich der optischen Gestaltung und der Usability, bei der sich die Justiz bislang nicht besonders positiv hervorgetan habe. Wichtig sei es, dabei den rechtssuchenden Bürger in den Mittelpunkt zu stellen und sich zu fragen, was dieser von einem digitalen Gerichtszugang und -verfahren erwarte. Dabei sei es sehr sinnvoll, auf die Design-Thinking-Methode zu setzen, deren Anwendungsmöglichkeiten in diesem Bereich kürzlich von Andert/Dörr in der LTO skizziert worden seien.
Diskussion – Online-Zugang für sämtliche staatliche Stellen geplant
In der folgenden Diskussion wurde u. a. darauf hingewiesen, dass im Rahmen eines Online-Zugangs sichergestellt werden solle, dass ein solcher einheitlich für sämtliche staatliche Stellen und nicht nur für Gerichtsverfahren nutzbar sei. Dabei könne es sich anbieten, auf schon bestehende Möglichkeiten wie beispielsweise dem Elster-Portal der Finanzverwaltungen aufzubauen. Dickert wies insoweit darauf hin, die Vision der Arbeitsgruppe sei „ein einziger Zugang zum Staat“, wie er auch im Onlinezugangsgesetz (OZG) vorgesehen sei. An diesem Bürgerzugang solle sich die Justiz beteiligen. Bürger*innen müssten sich so nur ein einziges Mal autorisieren und könnten dann mit allen staatlichen Stellen kommunizieren.
Weiter wurde darauf aufmerksam gemacht, dass sich ähnliche Fragen der Digitalisierung von Verfahren auch in Schiedsgerichtsverfahren stellten und angeregt, auch auf deren Erfahrungen zurückzugreifen.
Abkehr vom Prinzip der Saalöffentlichkeit?
Außerdem ging es um die Frage, wie im Rahmen von Online-Verfahren künftig die Öffentlichkeit sichergestellt werden soll und ob insoweit eine Abkehr vom Prinzip der Saalöffentlichkeit (vgl. § 169 Abs. 1 GVG) hin zu einer erweiterten Online-Öffentlichkeit sinnvoll sei. Dickert wies darauf hin, dass ein entscheidendes Hindernis dabei die Sitzungspolizei gem. § 176 GVG sei: Werde eine Gerichtsverhandlung gestreamt, seien Zuhörer*innen – anders als bei einer Anwesenheit im Gerichtssaal – nicht mehr ohne Weiteres der Sitzungspolizei zugänglich. Die Arbeitsgruppe habe sich deshalb nach längeren Diskussionen auf einen Mittelweg geeinigt, wonach die Verhandlung in Online-Verfahren in einen gesonderten „körperlichen“ Raum übertragen und so die Öffentlichkeit hergestellt werde. Die Sitzungspolizei des Vorsitzenden werde dann an eine in diesem Raum anwesende Person delegiert.
Zum beschleunigten Online-Verfahren wurde erörtert, dass es sinnvoll sein könnte, dies – anders als geplant – nicht im Regelfall schriftlich, sondern gerade auch bei Beteiligung nicht anwaltlich vertretener Personen im Wege der Videokonferenz durchzuführen, um so alle Beteiligten möglichst schnell „an einen Tisch zu holen“. Prof. Rühl verwies auf die Situation in Dänemark, wo inzwischen Online-Verfahren der Regelfall seien. Dies werde sich ihrer Ansicht nach auf mittlere Sicht auch in Deutschland durchsetzen. Dabei wurde angemerkt, dass gerade in der Schiedsgerichtsbarkeit auch Verfahren mit hohen Streitwerten inzwischen online durchgeführt werden, so dass Online-Verhandlungen nicht zwingend auf geringe Streitwerte begrenzt werden müssten.
Wann ist eine Reform zu erwarten?
Es wurde aber auch deutlich, dass eine sehr zeitnahe Umsetzung der Vorschläge nicht zu erwarten ist. Dickert wies darauf hin, dass in der aktuellen Legislaturperiode rechtspolitisch voraussichtlich nicht mehr viel passieren werde. Ziel der Arbeitsgruppe sei es, dass die Vorschläge nach der nächsten Bundestagswahl zum Gegenstand eines Koalitionsvertrages werden. Ein ähnliches Vorgehen im Strafrecht sei in der Vergangenheit erfolgreich gewesen und habe zur Folge gehabt, dass viele Forderungen des Strafrichtertags zum Gegenstand des gegenwärtigen Koalitionsvertrages geworden seien. Gelinge dies auch dem Zivilrichtertag, sei zu erwarten, dass wesentliche Ideen und Impulse umgesetzt würden. Darauf lasse auch die positive Stellungnahme der Justizministerkonferenz hoffen.
Fazit: Digitalisierung soll Bedeutung der Ziviljustiz stärken
Insgesamt wurde im Rahmen der Diskussion deutlich, dass eine Überarbeitung des Zivilprozessrechts hin zu einer deutlichen Digitalisierung dringend notwendig ist, wenn die Ziviljustiz nicht zunehmend an Bedeutung verlieren soll. Diskutiert wurde folglich lediglich das „Wie“ und nicht das „Ob“. Die Zahl der Teilnehmer*innen und die lebhafte Diskussion machten außerdem deutlich, dass die Vorschläge der Arbeitsgruppe auf große Resonanz stoßen und zu weiteren Diskussionen einladen. Der Roundtable wird daher voraussichtlich im Frühling in ähnlicher Form fortgesetzt werden.
Der Roundtable „Digitalisierung des Zivilprozesses“ kann im Nachgang angeschaut werden:
Foto: Adobe.Stock/©icedmocha
Benedikt Windau ist Richter am Landgericht Oldenburg. Er veröffentlicht zu zivil-
prozessualen Themen und betreibt die Seite zpoblog.