Die Legal Live 2021: Automatisierte Gerichtsverfahren, Contract Design & Co.

Von FFI-Verlag

Die LEGAL LIVE, auch bekannt als Legal Revolution, brachte vom 23. bis 25 März 2021 – zum ersten Mal virtuell – zahlreiche Akteure aus Justiz, Anwaltschaft, Rechts- und Compliance-Abteilungen zusammen. Mit 50 Veranstaltungen und mehr als 60 Speakern bot das dreitägige Event eine Fülle an Vorträgen, Roundtables und Workshops, in denen Entscheider und Gestalter aus Recht und Compliance zusammentrafen und sich über die Zukunft des Rechtsmarkts austauschen konnten. Für diejenigen, die die Legal Live verpasst haben, gibt es die spannendsten Erkenntnisse aus sechs Vorträgen zum Nachlesen.

„Big Legal Data – was verraten Juradaten?“ – und wie kann man sie nutzen?

Im Vortrag „Big Legal Data – was verraten Juradaten?“ am Dienstagnachmittag erläuterte Privatdozent Dr. Martin Fries, wo es im juristischen Bereich große Datenmengen gibt und wie diese von Juristinnen und Juristen genutzt werden können. Große Datenmengen ergeben sich zum Beispiel durch die Urteile der Gerichte. Bisher werden allerdings nur wenige Urteile veröffentlicht. Laut Dr. Fries könnte sich das zukünftig ändern. Das hätte den Effekt, dass beispielsweise 10.000 Urteile zu einem ähnlich gelagerten Fall vorlägen, die miteinander verglichen und aus denen wichtige Erkenntnisse gezogen werden könnten.

Als weiteren Anwendungsfall nannte Dr. Fries Verträge, z. B. im Immobilienbereich. Liest man automatisiert eine große Menge an Verträgen aus, stoße man auf ungewöhnliche Klauseln und typische Wörter und Formulierungen. Besonderheiten in Verträgen und nicht korrekte Klauseln könnten direkt identifiziert werden.

Ein anderer Bereich, in dem Big Data effektiv von Juristinnen und Juristen genutzt werden könnte, ist laut Dr. Fries der der Mandantenakquise. So ist bei Google für jeden einsehbar, was potenzielle Mandanten googeln. Hieraus könnten wertvolle Erkenntnisse dazu gewonnen werden, wie diese ticken und wie ich als Anwältin bzw. Anwalt Rechtsprodukte passgenau zuschneiden kann, um Marktanteile zu erobern. Big Legal Data kann die Arbeit von Juristinnen und Juristen bei richtiger Nutzung und Auswertung also bereichern. Gleichzeitig muss aber immer auch ein Mittelweg zwischen Datenerhebung und Datenschutz gefunden werden.

Modernisierung des Zivilprozesses: Wie kann der Parteivortrag effizienter strukturiert werden?

Am Mittwochmorgen gewährte Richter Dr. Ralf Köbler vom Landgericht Darmstadt in seiner Keynote „Modernisierung des Zivilprozesses: Strukturierung des Parteivortrags“ einen Einblick in die Pläne der Arbeitsgruppe. Die bisherige Relationsmethode, also das Nebeneinanderstellen des entscheidungserheblichen Sachvortrags in einer Tabelle durch Richterinnen und Richter sei eine zeitraubende Aufgabe, die digitalisiert und deutlich effizienter gestaltet werden sollte. Die Idee ist, dass es künftig ein gemeinsames elektronisches Basiselement auf einer Justizplattform gibt, in das sämtlicher Sachvortrag von den Parteien selbst aufgenommen wird.

Auf die chronologische Aufbereitung des Sachverhalts folgt die Rechtsausführung als Freitext. Ein nach Klage und Erwiderung erfolgender weiterer Sachvortrag kann nur an der sachlich-chronologisch passenden Stelle eingetragen werden. Das führe zu einer deutlichen Arbeitserleichterung und weniger Redundanzen. Damit trage die Vorgehensweise erheblich zur Entlastung der Gerichte bei.

Wieso scheitern so viele Legal Tech-Projekte?

Diese Frage stellte Rechtsanwalt und Robotiker Tianyu Yuan in seinem Vortrag „… und am Ende kommt Legal Tech“ und machte Handlungsvorschläge, wie Kanzleien Legal Tech-Projekte besser managen können. Seine Idee für die richtige Vorgehensweise basiert auf dem PPT-Modell (People → Process → Tech) aus der Informatik. Konkret heißt das: Erst müssen Stakeholder und Mitarbeiter:innen von dem Projekt überzeugt werden. Ist das geschehen, sollte man sich mithilfe von agilen Methoden wie Design Thinking, Lean UX und BPMN näher mit den Prozessen beschäftigen, die man verbessern möchte. Erst am Ende kommt die eigentliche Implementierung von Legal Tech-Anwendungen. 70 Prozent der Arbeit besteht Yuans Ansicht nach darin, die Mitarbeiter:innen und Stakeholder zu überzeugen und einen guten Prozess auszuarbeiten. Die technologische Umsetzung sei dann oft gar nicht mehr so schwer.

Im anschließenden Chat wurde die Frage diskutiert, wo Innovationen im Legal Tech-Bereich am einfachsten umzusetzen sind. Die Antwort von Yuan: Standardprozesse identifizieren und im Unternehmen die folgende Frage beantworten: Wo kann ich mit relativ wenig Aufwand durch Digitalisierung und Automatisierung viel bewirken?

Legal Tech als „Innovationsmotor“: Werden Falllöser zu „Architekten für automatisierte Falllösung“?

Legal Tech-Unternehmer Dr. Benedikt Quarch referierte in seinem Vortrag über die Frage, wie automatisierte Gerichtsverfahren den Zugang zum Recht verändern können. Das Ziel, auf das dabei hingearbeitet werden müsse, sei, so Quarch, einen „bunten Strauß“ an Angeboten zur Durchsetzung von Rechten anzubieten. Zum Beispiel indem unkomplizierte Fälle mithilfe von Code automatisiert gelöst werden. Komplizierte Sachverhalte, die auch menschliche Empathie benötigen, würden jedoch weiterhin von Jurist:innen bearbeitet, die für diese Fälle dann wiederum mehr Zeit hätten. Quarch prophezeite, dass die Rolle der Jurist:innen sich in Zukunft verändern werde: Vom Falllöser hin zum „Architekten für automatisierte Falllösung“.

Im Chat kam die Frage auf, ob automatisierte Gerichtsverfahren auch auf europäischer Ebene sinnvoll seien. „Definitiv“, so Quarch. Auf europäischer Ebene gebe es die Initiative „European Small Claims“ die durch standardisierte Formblätter EU-Verfahren für geringfügige Forderungen vereinfachen möchte. Die Bereitschaft und das Interesse seien auch auf europäischer Ebene vorhanden.

Contract Design – mit Legal Design komplexe Sachverhalte für Mandanten und Konsumenten herunterbrechen

Einen dynamischen Beitrag lieferte Anwältin und Beraterin für Legal Design Astrid Kohlmeier, die das Thema Contract Design, einen Teilbereich des Legal Design, vorstellte. Wer denkt, dass es sich hierbei um ein Modethema oder leeres Buzzword handelt, liegt falsch. Denn: Zunehmende Regulierungen und schlechtes Contract Management führen dazu, dass Konsumenten, beispielsweise beim Lesen von Geschäftsbedingungen, sehr viel Zeit aufwenden müssen – und im Zweifel nichts verstehen. Das Ziel des Contract Design ist es deshalb, mit Design-Elementen Verträge auf eine ganz neue Art darzustellen und damit komplexe Sachverhalte für Mandanten und Verbraucher:innen ohne juristischen Hintergrund herunterzubrechen. Wie das in der Praxis aussieht, verdeutlichte die Referentin am Beispiel eines Arbeitsvertrags des niederländischen Süßwarenherstellers Tony Chocolonely, der im Internet jüngst Aufsehen erregte:

Quelle: https://www.werf-en.nl/arbeidsovereenkomst-op-twee-kantjes-voor-tonys/

Doch wie funktioniert Contract Design bei einem komplexen Vertrag, der mehrere hundert Seiten lang ist? Kohlmeier rät dazu, mit einfachen Verträgen anzufangen. Denn je mehr Anwältinnen und Anwälte die Methode adaptierten, desto eher werden sie sich die Fähigkeit aneignen, Verträge durch die Augen ihrer Adressaten zu sehen – und das schaffe Vertrauen und könne Partnerschaften stärken. Warum also nicht mit einem Projekt wie der eigenen Kanzleiwebsite beginnen und durch visuelle Elemente potenziellen Mandanten das Navigieren durch den Content erleichtern?

Roundtable zur Digital Study: „Das Mindset ändern ist wichtiger, als programmieren zu können“

Im Roundtable zur Digital Study, der deutschlandweiten Studie zur Digitalisierung der juristischen Ausbildung und Berufspraxis, diskutierten Expertinnen und Experten am letzten Tag der Legal Live darüber, welche Themen für die Studie im Jahr 2021 besonders in den Blick genommen werden sollten. Alisha Andert, Head of Legal Innovation bei Chevalier, erinnerte sich an ihre Studienzeit zurück und bemängelte, dass angehende Juristinnen und Juristen immer noch sehr wenige Berührungspunkte mit anderen Disziplinen hätten und vornehmlich in ihrer eigenen Blase gehalten würden. Dass der Rechtsmarkt sich aber ein Stück weit zum Dienstleistermarkt entwickelt, bedeute, dass unternehmerisches Denken und Handeln an Bedeutung gewinnen – vom Marketing über Buchhaltung bis hin zur Strategieentwicklung.

Legal Designerin Lina Krawietz betonte, dass sie bei Projekten mit Kanzleien und Rechtsabteilungen immer wieder merke, dass die größte Herausforderung nicht darin bestünde, sich neue Methoden anzueignen. Vielmehr stünden sich Juristinnen und Juristen mit ihrem Mindset und Selbstverständnis selbst im Weg, da sie sich nicht in der Rolle sehen, Innovationen mitzugestalten. Das, so Krawietz, sei letztendlich schädlich für Deutschland als Innovationsstandort und die Rechtsbranche. Daher lautet ihre Devise: Das Mindest zu verändern ist wichtiger, als programmieren zu können. Und: Juristisches soll nicht losgelöst von allem anderen betrachtet werden. Die lebendige Diskussion lässt gespannt sein auf die kommende Digital Study, bei der dieses Mal auch Anwält:innen befragt werden.

Fazit: Vielfalt und Qualität trotz Coronakrise

Nachdem die ursprünglich für Anfang Dezember 2020 als Präsenzmesse geplante Veranstaltung abgesagt wurde, haben die Veranstalter es geschafft, in kurzer Zeit ein innovatives Online-Event mit einer intuitiven Event-Plattform und optimalen technischen Voraussetzungen zu schaffen. Mit dem bunten Mix an unterschiedlichsten Vorträgen und Workshops regten die Referenten vor allem dazu an, über die eigene Disziplin hinauszuschauen. Diejenigen, die Vorträge verpasst haben, können die Keynotes und Panels der LEGAL LIVE übrigens im Nachgang auf der Event-Plattform schauen.

Bild: LEGAL (R)EVOLUTION
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