Von Markus Hartung
In diesem Jahr befasst sich die 8. Herbsttagung des Bucerius Center on the Legal Profession (CLP) mit Sammelklagen. Seit Anbeginn war es Ziel der Herbsttagung, Themen und Trends zu identifizieren, zu untersuchen und zu präsentieren. In den letzten Jahren waren das häufig Fragen der digitalen Transformation und deren Auswirkungen auf den Rechtsmarkt, oder genauer: Wie Unternehmen im Rahmen der Digitalisierung die Funktion Recht und Risikomanagement organisieren, und was das für Kanzleien bedeutet. Die Herbsttagungen standen immer unter einem manchmal provozierenden Motto, etwa im Jahr 2014 „Mensch vs. Maschine“ mit einer Betrachtung dessen, was Software heute schon kann (und was nicht). Dieses Jahr ist es die „Attacke!“, mit der wir auf ein aktuelles Phänomen und dessen Implikationen aufmerksam machen wollen.
Ganz neu ist das alles nicht, denn Sammelklagen gibt es in den USA schon seit vielen Jahren. In Deutschland sind sie wegen der US-amerikanischen Erfahrungen unbeliebt: Es geht um irrsinnig hohe Schadensersatz und Schmerzensgeldbeträge, und vermeintlich verdient nur eine gut organisierte Anwaltsindustrie daran. Allerdings muss man wohl konstatieren, dass viele ihre Kenntnis über das US-amerikanische Justizsystem aus Fernsehserien beziehen, was aber nichts daran ändert, dass der Verweis auf US-Justiz hier ein sicheres Keulenargument ist. Daher hat sich das politisch nie durchsetzen können, Popularklagen gibt es in Deutschland nicht. Es gibt Ausnahmen, etwa im Umweltrecht, auch im Verbraucherschutzrecht – aber dann sind die möglichen Kläger eng definiert, denn nicht jeder darf mit der Behauptung einer Rechtsverletzung vor Gericht ziehen, wenn er persönlich nicht betroffen ist. Grundsätzlich gilt der Individualrechtsschutz, Urteile gelten nur zwischen den unmittelbar am Verfahren Beteiligten (von hier nicht interessierenden Ausnahmen einmal abgesehen).
Erste „Sammelklagen“ in Deutschland
Im Jahr 2005 reagierte der Gesetzgeber auf zahlreiche Aktionäre der Telekom, die sich von Prospekten getäuscht sahen, und schuf das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG), mit dem erreicht werden sollte, dass ca. 16.000 Kläger in einem Gerichtsverfahren bestimmte Tatsachen- und Rechtsfragen klären konnten. Eine echte Sammelklage ist es nicht, denn es klärt nur einzelne Rechtsfragen mit verbindlicher Wirkung für tausende anderer Prozesse. Andererseits sind es nicht nur Verbände, die eine solche Klage erheben können, vielmehr kann sich jeder Aktionär als Mit-Kläger engagieren. Besonders populär ist das Gesetz aber nie geworden, es gilt als umständlich. Es ist auch nur im Kapitalmarktbereich anwendbar. Der Auslöser dieses Prozesses, das Telekom-Verfahren, ist immer noch nicht beendet, denn der BGH hatte eine für die Kläger ungünstige Entscheidung an das OLG Frankfurt zurückverwiesen. Da liegt es jetzt.
Heute: Sammelklage vs. Musterfeststellungsklage
Inzwischen gibt es einen weiteren Fall, dessen Dimensionen den Gesetzgeber bewogen haben, das System des Individualrechtsschutzes zu überdenken: Die Rede ist vom Dieselskandal. Hunderttausende von Kunden haben Fahrzeuge erworben, die bezogen auf den Schadstoffausstoß nicht das halten, was sie versprechen, und die enttäuschten Kunden riskieren einen erheblichen wirtschaftlichen Verlust ihrer Fahrzeuge und müssen sogar damit rechnen, dass sie mit den Wagen gar nicht mehr fahren dürfen. Während VW in den USA von Seiten der Behörden erheblich unter Druck geraten war und sehr hohe Schadensersatzzahlungen auch an Verbraucher leisten musste, geschah in Deutschland erst mal fast gar nichts – die Kunden mussten alle einzeln klagen, um sich die Chance auf eine Entschädigung zu erkämpfen. Wer nicht das Prozessrisiko und die Mühen eines Rechtsstreits auf sich nehmen will – und das ist die weit überwiegende Mehrheit der Betroffenen – geht leer aus.
Diese unterschiedliche Behandlung von Verbrauchern in den USA und in Deutschland ist schwer erträglich. Die Bundesregierung reagierte mit der Musterfeststellungsklage, die im November 2018 in Kraft treten soll. Sie ist eine Verwandte des o.g. KapMuG-Verfahrens, mit dem Unterschied, dass die Verbraucher nicht direkt klagebefugt sind, sondern nur Verbraucherverbände. Schon vorher hatten sich tausende Verbraucher von findigen Anwälten und Legal Tech-Unternehmern bewegen lassen, sich faktischen Sammelklagen anzuschließen. Seitdem sind viele tausend Ansprüche in wenigen Klagen zusammengefasst worden und werden jetzt durch die Mühlen der Justiz gedreht. Verbraucher können also ab November wählen, welche Wege sie beschreiten wollen, um ihre Ansprüche geltend zu machen.
Diese faktischen Sammelklagen wurden auch ermöglicht durch die stürmische Entwicklung von Legal Tech in den letzten Jahren. Denn die Behandlung von zehntausenden von Ansprüchen in einer Klage lässt sich ohne spezielle Software längst nicht mehr bewältigen. Auch die Akquise von Kunden für diese Klagen geht fast ausschließlich über das Internet, und die Sammlung und Strukturierung der prozessrelevanten Informationen klappt überhaupt nur mit Software. Das gilt auch für die Verteidigungsseite: Auch die Abwehr solcher Klagen geht ohne Legal Tech gar nicht mehr.
Welche dieser Klagearten wird sich durchsetzen?
Wie vertragen sich faktische Sammelklage, Musterfeststellungsklage und weitere Klagearten, die in anderen europäischen Ländern möglich sind und sich mit den gleichen Fahrzeugthemen befassen? Darüber wird sehr heftig diskutiert. Auf der Herbsttagung bringen wir alle zusammen, um uns eingehend mit den verschiedenen Aspekten dieser Verfahren zu befassen. Zu Wort kommen die unterschiedlichsten Beteiligten – die Angreiferanwälte, die anwaltlichen Verteidiger, Vertreter der Politik, Prozessfinanzierer, Verbraucherschützer, Wissenschaftler, Legal Tech-Unternehmer... diese Sammelklagen betreffen viele taktische, technologische und strategische Fragen, auf die es noch lange keine umfassende oder befriedigende Antwort gibt. Gerade bei der Bearbeitung von Massenverfahren erweisen sich innovative Legal Tech-Anwendungen bei der Dokumentenerstellung und der Ablaufautomatisierung als unverzichtbare Hilfsmittel. Die Zusammenarbeit zwischen Anwälten und Unternehmen, seit vielen Jahren eins unserer wichtigsten Themen, steht angesichts der beispiellosen Herausforderungen im Hinblick auf Projekt- und Prozessmanagement vor neuen Fragen. Die Bucerius Herbsttagung ist die erste und bislang einzige Konferenz, auf der diese Themen behandelt werden.
Markus Hartung ist Rechtsanwalt, Mediator und Geschäftsführer der Kanzlei Chevalier. Seit 2006 ist er Mitglied des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins (DAV), von 2011 bis 2019 als Vorsitzender. Weiterhin ist er Mitglied im Ausschuss Anwaltliche Berufsethik. Ende 2017 ist das von ihm mitherausgegebene und mitverfasste Buch „Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“ erschienen.