Beim German Legal Tech Summit 2024 hat das Start-up suitcase mit seiner innovativen Schlichtungsplattform sowohl die Jury als auch die Besucher:innen der Legal Tech-Konferenz überzeugt und die Start-up Pitch Trophy nach München geholt. Doch was steckt hinter der Idee, komplexe Streitigkeiten digital und außergerichtlich zu lösen? Der German Legal Tech Hub (GLTH), einer der Veranstalter des German Legal Tech Summits, hat mit dem Gründer Tim Kniepkamp gesprochen. Er erklärt, warum „Vertragen besser ist als Streiten“ und wie suitcase in wenigen Tage eine Einigung vermittelt.
GLTH: Lieber Tim, auch an dieser Stelle nochmals herzlichen Glückwunsch dir und euch zu eurem Sieg. Magst du euch und euer Start-up einmal kurz vorstellen? Wer seid ihr und wie kam es zur Idee einer Schlichtungsplattform?
Tim Kniepkamp: Vielen Dank! Die Auszeichnung ist eine großartige Anerkennung unserer Arbeit. Ohne kluge Partner wie Anja Topoll (ÖRAG) und Philipp Eder (Allianz) hätten wir es nicht an diesen Punkt geschafft. Sie haben unser Potential schon vor dem Markteintritt im März 2024 erkannt und uns seither tatkräftig unterstützt.
Suitcase bietet eine unabhängige, neutrale Plattform zur Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten. Wir verstehen uns als Vermittler. Unser Ziel ist es, in wenigen Tagen eine Einigung zu erreichen und so eine gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden.
Hierzu nutzen wir den Double-Blind-Bidding-Ansatz: Beide Konfliktpartner teilen uns vertraulich mit, für welchen Geldbetrag sie den Rechtsstreit beilegen würden. Die blinden Gebote führen dazu, dass die Menschen ehrlich sind. So liegen die Positionen nachweislich näher beieinander und die Chancen für eine Einigung steigen. Sobald wir einen gemeinsamen Nenner gefunden haben, erstellen wir rechtssicher den individuellen Vergleichsvertrag. Aktuell fokussieren wir uns auf die Aufhebung bzw. Kündigung von Arbeitsverhältnissen und die Rückzahlung der Mietkaution.
Die Idee digitaler Streitbeilegung kam uns im Sommer 2020. Den Anstoß gab ein befreundeter Anwalt aus Brasilien, der auf seinem Handy ein mobiles Gerichtsverfahren begleitete. Aus dem Studium heraus gründeten wir Suitcase dann im Sommer 2022 und stiegen im April 2023 in Vollzeit ein. Binnen zwölf Monaten sicherten wir uns die erste Finanzierungsrunde und entwickelten das Produkt bis zur Marktreife. Das ist ein Ausdruck unserer enormen Motivation und der präzisen, fokussierten Arbeitsweise.
An wen richtet sich euer Angebot und welche Anwendungsfelder lassen sich damit aktuell abbilden?
Wir sind ein B2B(2C)-Unternehmen: Im Vertrieb fokussieren wir uns auf Geschäftskunden. Konkret arbeiten wir mit Rechtsschutzversicherern, Rechtsanwälten und Unternehmen. Zugleich erkennen wir an, dass Privatkunden unser Produkt nutzen, indem sie an einem Rechtsstreit beteiligt sind. Wir trennen sehr strikt zwischen Kunde (B2B) und Nutzer (B2C).
Damit bleibt die Frage offen, wofür man Suitcase nutzen kann. Ein praxisnahes Beispiel sind Konflikte rund um die Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Vor einer Kündigung vermitteln wir einen Aufhebungsvertrag. Kunden sind die Personalabteilungen. Wenn eine Kündigung ausgesprochen wird, vermitteln wir eine Abfindung und wenden die Kündigungsschutzklage ab. Kunden sind die Rechtsanwälte. Falls es zu einer Kündigungsschutzklage kommt, vertreiben wir das Produkt an Versicherer, die die Prozesskosten tragen. Wir versuchen damit, einen Use Case entlang aller Eskalationsstufen zu adressieren.
Natürlich halten wir die Augen nach neuen Anwendungsfeldern offen. Aktuell validieren wir fünf weitere Use Cases. Wir achten auf ein fünfstelliges Fallvolumen, hohe Einigungsbereitschaft, Streitwert < 10.000€ und geringe Emotionalität. Wer sich angesprochen fühlt, sollte sich unbedingt melden.
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Was unterscheidet suitcase von anderen Anbietern in diesem Bereich und wie stellt ihr sicher, dass eure Plattform für alle Parteien fair und neutral bleibt?
Mit Suitcase eröffnen wir in Deutschland ein neues Segment am Legal Tech-Markt: Online Dispute Resolution (ODR). Wir unterscheiden uns von den Gerichten, indem es nicht darauf ankommt, wer recht hat. Ich sage gern, wir betrachten einen Rechtsstreit von hinten: Wir suchen eine tragfähige Lösung, die den Konflikt beendet. Von der Anwaltschaft unterscheidet uns, dass wir nicht einseitig rechtlich beraten, sondern beiden Seiten helfen. Anders als Claims Processing Anbietern (Flightright, RightNow) kaufen wir keine Forderungen im Wege der Abtretung. Zu guter Letzt vermitteln wir auch keine (selbstständigen) Partneranwälte wie LegalHero oder Hopkins.
Kurzum: Wir sind wie die Schweiz. Wir bieten den Parteien ein Forum, um ihren Konflikt zu lösen. Und wir bieten das richtige Werkzeug, um mit minimalem Arbeitsaufwand 100 Prozent digital zu einer Einigung zu finden.
Welche monetären Auswirkungen hat eure Lösung für die im Prozess Beteiligten?
Ich bin ein großer Fan von greifbaren Beispielen. Bleiben wir also im Arbeitsrecht bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Wenn ein Arbeitnehmer eine Abfindung von 10.000 Euro im Wege eines Gerichtsvergleichs geltend macht, bleiben ihm abzüglich der Anwaltskosten 8.585,09 Euro. Umgekehrt kostet den Arbeitgeber dieser Prozess einschließlich Anwaltsgebühren 11.414,91 Euro. Die Anwälte müssen für die Vergütung i. H. v. jeweils 1.414,91 Euro zwischen drei und fünf Arbeitsstunden aufwenden. Das entspricht einem Stundensatz von 282,98 Euro.
Wenn sich die Parteien außergerichtlich über Suitcase geeinigt hätten, wären dem Arbeitnehmer 9.403,81 Euro geblieben, während es den Arbeitgeber nur 10.596,19 Euro gekostet hätte. Die Anwälte hätten die außergerichtliche Einigungsgebühr (596,19 Euro) mit 30 Minuten Arbeitsaufwand realisiert, was einem Stundensatz von 1.192,38 Euro entspräche.
Wir optimieren also einen hoch ineffizienten Prozess zugunsten aller Beteiligten. Und in diesem Beispiel sind die fünfmal schnellere Verfahrensdauer und der 80 Prozent geringere Arbeitsaufwand noch nicht einmal berücksichtigt.
Was ist eure Vision für die Zukunft? Plant ihr, weitere Rechtsgebiete abzudecken oder neue Funktionen zu integrieren?
Unser Ziel ist es, das Angebot von Suitcase in drei Dimensionen auszubauen: Rechtsfragen, Geografien, Mechanismen. Kurzfristig werden wir die Schlichtung für weitere zivilrechtliche Fragen freischalten. Mittelfristig werden wir den Vorteil unseres Geschäftsmodells heben, dass es nicht an ein Rechtssystem gebunden ist. Langfristig werden wir weitere Formen der außergerichtlichen Streitbeilegung integrieren.
Es überrascht sicher nicht, dass auch maschinelles Lernen eine Rolle spielt. Dabei ist uns wichtig, nicht blind auf den KI-Hype aufzuspringen. Wir schauen uns sehr genau an, wo diese Technologie den Menschen die Nutzung von Suitcase erleichtert. Die Features bleiben stets optional und die Schlichtung final in den Händen der Menschen. Unsere These: Für Menschen (in Deutschland) ist es schon ein großer Schritt, ihre Rechtsstreitigkeiten digital zu lösen. Diese Lösungen müssen komplett technisch nachvollziehbar sein, damit ihnen vertraut wird.
Wie seht ihr die zukünftige Entwicklung der Rechtsbranche in Deutschland? Welche Rolle spielt die Digitalisierung und was müsste sich ändern, um digitale Lösungen wie eure noch stärker zu integrieren?
Da habe ich die letzten paar Jahre viel (schmerzhaft) lernen dürfen. Mein Befund: Es fehlen eine technologieoffene Grundhaltung, eine breite Bekanntheit und Zahlungsbereitschaft unter Juristen, damit die Digitalisierung der Rechtsbranche gelingt.
Zunächst herrscht im deutschen Rechtsmarkt eine enorme, wissenschaftlich belegte Skepsis – ganz generell und besonders gegenüber technischen Lösungen. Das finde ich unglaublich schade. Wir werden bis 2030 in Deutschland effektiv 40 Prozent der Rechtsanwälte in den Ruhestand schicken. Das wird die Ressourcen enorm verknappen. Niemandem wird die Digitalisierung – konkret in der Rechtsbranche – Arbeit wegnehmen. Das Gegenteil ist der Fall: Die maßgeschneiderte Rechtsberatung wird zu einem Luxusgut. Die knappen Ressourcen müssen wir effektiv einsetzen. Wir müssen triagieren: Die breite Masse der Fälle wird sich nur mit technischer Unterstützung bewältigen lassen. Das erfordert von Berufsträgern eine (Technologie-)Offenheit. Und genau die ist Juristen wesensfremd: Wir optimieren darauf, Risiken zu minimieren. Als Gründer wünsche ich mir, dass der erste Impuls nicht Ablehnung, sondern Neugierde ist.
Wir sollten uns auch bewusst sein, dass Legal Tech (noch) eine enorme Blase ist. Da müssen wir raus. Wir müssen für das Vertrauen in der Bevölkerung werben.
In Deutschland ist eine Zertifizierung von Dienstleistungen ein probates Mittel und die fehlt im Legal Tech. Genauso wichtig ist es, Legal Tech in die Anwaltschaft zu tragen. Besonders Einzelanwälte und kleinere Kanzleien würden enorm in der Mandatsbearbeitung entlastet.
Zu guter Letzt spielt die Kaufkraft eine starke Rolle. Unter Gründern gelten Juristen als eine unbeliebte Kundengruppe: Sie haben extrem hohe Ansprüche, wollen aber nur wenig zahlen. Die Konsequenz: Der Rechtsmarkt wird von vielen klugen Gründern gemieden; die Innovationsdichte nimmt ab. Diesen Teufelskreis können wir gemeinsam durchbrechen. Gründer müssen einen hohen Grad an Produktqualität liefern; Juristen müssen im Gegenzug für Pilotprojekte bereitwillig zahlen.
Wie waren die ersten Tage und Wochen für euch, nach dem Gewinn der Pitch Trophy beim German Legal Tech Summit 2024?
Wunderbar! Die Resonanz rund um das Event war sehr gut. Jetzt wollen wir die Aufmerksamkeit der nächsten Monate nutzen, um neue Partnerschaften zu knüpfen.
Vielen Dank an Tim und das Team von suitcase für die spannenden Einblicke und dafür, dass ihr eure Vision mit uns teilt! Als Sieger-Team der Pitch Trophy 2024 seid ihr nun unser neues Start-up in Residence 2024/2025 und geht die nächsten zwölf Monate mit uns auf Tour. Unsere erste gemeinsame Veranstaltung fand bereits am 27.11.2024 in Lingen statt: „LawTech Journey – die Zukunft beginnt jetzt!"
Bild: © Deutsche Messe AG
Tim ist der Mitgründer und Geschäftsführer der Suitcase GmbH. Er studierte Jura, BWL und Psychologie in Bielefeld, Berlin und London. Sein Fokus liegt seither auf der Streitbeilegung mit Stationen in internationalen Wirtschaftskanzleien und am Europäischen Gerichtshof.