Von Jonathan Melke
Anwältinnen und Anwälte verkaufen Fachwissen. Wie großartig wäre es, wenn jeder Anwalt bzw. jede Anwältin alles wüsste, was die Kanzlei weiß? Viele Kanzleien starteten daher eigene Wissensmanagement-Projekte und kauften Datenbanken- und Kollaborations-Tools ein. Doch auf die großen Erwartungen folgte meist Ernüchterung: Projekte gerieten ins Stocken, der Ertrag blieb hinter dem betriebenen Aufwand zurück. Was war passiert? Lohnt sich Wissensmanagement überhaupt und wenn ja, für wen? Und welche Chancen bietet Künstliche Intelligenz (KI) für das juristische Wissensmanagement?
Die Tücken bisheriger Herangehensweisen
Wissen lässt sich nicht managen. Nur die Prozesse oder die Systeme, über die Wissen ausgetauscht wird, können gemanagt werden.[1] Für die Zwecke dieses Beitrags sind das Prozesse und Systeme, die das juristische Fachwissen einzelner Anwältinnen und Anwälte für die Kanzlei als Organisation zugänglich machen sollen. Dafür gibt es verschiedene Herangehensweisen.
Die scheinbar einfachste Form ist der Flurfunk. Die Kollegin, die bereits in einer ähnlichen Sache beraten hat, ist schnell gefragt und der damalige Schriftsatz als Ausgangspunkt für die eigene Arbeit rübergeschickt. Das funktioniert jedoch nur solange allgemein bekannt ist, wer woran arbeitet. Ständig Rund-E-Mails zu verschicken, ist keine attraktive Lösung, zumal kaum jemand all seine alten Fälle stets präsent haben wird.
Daher liegt es nahe, eine digitale Sammlung juristischen Wissens aufzubauen, auf die alle Anwältinnen und Anwälte einer Kanzlei direkt zugreifen können. Dieser Ansatz erscheint einfach. Schließlich sammeln viele bereits interessante Dokumente, wie Urteile, Literatur und Vorlagen. Es ist der Aufwand, den der Aufbau und die Pflege einer solchen Sammlung mit sich bringt, der nicht unterschätzt werden darf. Denn damit die Sammlung effektiv genutzt werden kann, muss sie gut strukturiert sein und ständig aktualisiert werden, insbesondere wenn sie auch Vorlagen und Textbausteine enthalten soll. Das erfordert ein hohes Maß an Mehrarbeit, die Anwältinnen und Anwälte neben der Mandatsarbeit oft nicht leisten können und auch nicht sollten. Ist dies erkannt, besteht ein Ausweg darin, extra Personal einzustellen, welches aber teuer und schwer zu finden ist. Zudem wird so wieder Wissen an Personen gebunden.
Eine alte Idee neu umgesetzt
Ausgelöst durch die technischen Entwicklungen im Bereich von Sprach-KI rückt eine moderne Umsetzung der alten Idee für das Wissensmanagement in den Fokus. Anstatt Wissen händisch zu sammeln, zu strukturieren und zu pflegen, kann das in alten Dokumenten vorhandene Wissen mithilfe intelligenter Such-Tools automatisch erschlossen werden. Vorhandenes Wissen steht so auf Knopfdruck zur Verfügung und muss nicht mehr durch Personen mühevoll aufgearbeitet werden.
Digital archivierte Dokumente beinhalten das wertvolle Spezialwissen einer Kanzlei. Jeder Schriftsatz, jeder Vertrag und jedes Gutachten spiegeln die Herangehensweise, das Fachwissen und die strategischen Entscheidungen der Kanzlei wider. Diese Dokumente sind das Resultat jahrelanger Erfahrung, tiefgreifender Recherchen und kreativer Lösungsansätze, die im Laufe der Zeit entwickelt wurden. KI-Modelle ermöglichen im Wissensmanagement eine automatische Kategorisierung und Indexierung der Dokumente, was wiederum zu einer enormen Steigerung der Suchgeschwindigkeit und Treffergenauigkeit gegenüber herkömmlichen Suchen führt. Die Such-Tools lassen sich nahtlos in die digitale Dokumentenverwaltung einer Kanzlei (Kanzleisoftware, Laufwerke etc.) integrieren und bieten ein google-artiges Sucherlebnis für den gesamten Datenbestand, ohne dass das System von der Kanzlei gepflegt, oder Arbeitsabläufe umgestellt werden müssen. So kann der im Dokumentenbestand vergrabene Wissensschatz ohne Mehrarbeit gehoben werden.
Damit die KI-Modelle für das juristische Wissensmanagement präzise Ergebnisse liefern, müssen sie individuell für das deutsche Recht und teilweise auch für die einzelne Kanzlei angepasst und trainiert werden.
Die Spezialmodelle performen besser als allgemeine Sprachmodelle großer Anbieter und brauchen weniger Rechenleistung, was sie mittelfristig preiswerter macht. Aufgrund des Entwicklungsaufwands ist der Preis für die spezialisierten KI-Suchen dennoch nicht unerheblich. Er bleibt jedoch schnell hinter den Kosten zurück, die sonst für die Mehrarbeit und zusätzliche Personalkosten anfallen würden.
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„Zeitgewinn durch Wissensmanagement“
Realistische Chancen effektiven Wissensmanagements
Effektives Wissensmanagement zu etablieren, ist kein triviales Unterfangen. Der händische Aufbau einer Wissensdatenbank erfordert zeitliche und der Einkauf eines Such-Tools finanzielle Investitionen. Für Kanzleien ist es daher wichtig, sich ein realistisches Bild von den Chancen zu machen.
Das Buzzword Effizienz ist immer anzutreffen, wenn die Vorteile von Wissensmanagement diskutiert werden. Schon seit vielen Jahren heißt es, dass Kanzleien effizienter werden müssen, um im Wettbewerb zu bestehen. Doch für die meisten ist die Effizienzapokalypse bislang ausgeblieben. Denn Doppelarbeit ist zwar ineffizient, aber solange Mandantinnen und Mandanten diese Stunden bezahlen, sind sie nicht weniger gewinnbringend. Entsprechend schwer kann es sein, den Nutzen von Effizienz zu greifen. Ausgelastete Kanzleien können ihre Gewinne nicht kurzfristig durch eine effizientere Arbeitsweise steigern, soweit sie nicht nach Gebühr oder Festpreis abrechnen.
Wird das so bleiben? Mittelfristig auf die Stundenabrechnung zu vertrauen, ist nicht ohne Risiko. Alternative Vergütungsmodelle werden vermehrt angefragt und Kanzleien mit entsprechenden Angeboten können Mandantinnen und Mandanten an sich binden und große Marktanteile gewinnen. Das gilt nicht nur bei der Beratung von Verbraucherinnen und Verbrauchern in absoluten Standardfällen. Der Einsatz von Lösungen und Technologien zur Verbesserung der Angebote ist gegenüber Rechtsabteilungen zum Aushängeschild geworden. So erwarten 91 Prozent aller Rechtsabteilungen von ihren Kanzleien für die kommenden Jahre den umfassenden Einsatz von Technologien zur Steigerung der Effizienz. Fehlt dieser Einsatz, erwägen sie auch einen Wechsel der Kanzlei.[2]
Nicht zu unterschätzen ist außerdem die Chance, mit Wissensmanagement die Stabilität und Qualität der Arbeit zu steigern. Insbesondere junge Anwältinnen und Anwälte profitieren davon, auf das Spezialwissen der Kanzlei zurückgreifen zu können. So können sie von der Vorarbeit und Erfahrung der Kolleginnen und Kollegen lernen und in ihre Arbeit für die Kanzlei einfließen lassen.
Gleichzeitig sinkt das Risiko eines „Brain Drains“ durch den Weggang erfahrener Kolleginnen und Kollegen.
Letztlich sind es nicht nur Mandantinnen und Mandanten, die sich durch den Technologieeinsatz und von effektivem Wissensmanagement beeindrucken lassen. Langwierige Suche nach Informationen und Doppelarbeit bergen Frustrationspotential. Indem Wissensmanagement besonders junge Kolleginnen und Kollegen unterstützt, kann es in Zeiten des juristischen Fachkräftemangels entscheidend sein, um junge Talente zu gewinnen und an die Kanzlei zu binden.
Unterschiedliche Ansätze für unterschiedliche Ziele
Kanzleien, die sich bislang am Aufbau eigener Wissenssammlungen versuchten, neigten dazu, den Aufwand zu unterschätzen und den Ertrag zu überschätzen. Das heißt nicht, dass dieser Ansatz keinen Platz in der Wissensmanagementstrategie hat. Es gilt, den Nutzen mit der erforderlichen Mehrarbeit und den damit verbundenen Personalkosten abzuwägen und den Zweck und Umfang der Sammlung entsprechend einzugrenzen. Für hochspezialisierte Kanzleien lohnt es sich, relevante Literatur und Urteile aus unterschiedlichen Quellen systematisch zu sammeln und aufzuarbeiten. Genauso kann sich für Kanzleien mit vielen ähnlichen und standardisierbaren Verfahren die Mühe lohnen, Vorlagen zu erstellen und diese zu automatisieren.
Such-Tools bieten eine in der Umsetzung einfache und in der Breite wirkungsvolle Alternative. Ohne Mehrarbeit macht ihr Einsatz das Wissen in allen Dokumenten wiederauffindbar und damit wiederverwertbar, bspw. ausformulierte Maßstäbe, gelungene Problemdarstellungen, überzeugende Argumente und spezielle Vertragsklauseln. Insbesondere für Boutiquen und mittelständische Kanzleien, die über große Dokumentenbestände verfügen, ist KI-basierte Suche eine attraktive Lösung und ein essenzieller Bestandteil jeder Wissensmanagementstrategie. So werden insbesondere junge Anwältinnen und Anwälte gefördert und die Stabilität und Qualität der Arbeit erhöht.
Jonathan Melke ist Volljurist und studierte an der Bucerius Law School und der Seoul National University in Südkorea. Zusammen mit dem Data Scientist Caspar von Galen gründete er Progius, um die rasanten Entwicklungen von KI für die deutsche Rechtsbranche nutzbar zu machen.