Von Philipp Kürth
„Was du bei Gansel nie hören wirst: Das haben wir schon immer so gemacht.“ Diese Feststellung von Alexander Knorr, Recruiting Manager bei Gansel Rechtsanwälte, ist exemplarisch sowohl für den Anlass des Events „Legal Tech: Mut zur Innovation“ bei Gansel am 10.04.2019, als auch für die Philosophie der Berliner Kanzlei.
Denn die Aussage spiegelt ihre wesentliche Grundeinstellung und Arbeitsweise wider: die ständige Bereitschaft, die eigene Arbeitsweise immer wieder neu zu denken und zu verändern, um den internen Entwicklungsprozess voranzutreiben. Die Kanzlei hatte am Abend des 10.04. zu Vorträgen, Finger Food und reger Diskussion eingeladen, um das Erfordernis der Neugestaltung juristischer Wertschöpfung, die Rolle der Technologisierung dabei und den Weg der Kanzlei bei der Entwicklung eines digitalen Rechtsprodukts für Verbraucher in den Fokus zu nehmen.
Die Rechtsdienstleistung als serviceorientiertes Digital-Produkt
Nach dem Eintreffen und einem ersten kurzen Austausch der rund 40 Teilnehmer – hauptsächlich junge Juristen mit erstem oder beiden Examina sowie Branchenvertreter aus dem Bereich Legal Tech – sorgten eine Reihe von Kanzlei-Mitarbeiter*innen für den informativen Input des Abends. Der erste Vortrag von André Wittwer zeigte ein neues Verständnis für die Bereitstellung juristischer Dienstleistungen im Zeitalter digitaler Wertschöpfung. Zwei Faktoren stellte der Referent für seine Betrachtungsweise rechtlicher Mandantenvertretung in den Mittelpunkt: die Möglichkeiten des Internets und die Bereitstellung juristischer Beratung in Form eines Rechtsprodukts.
Das Internet ist für das vorgestellte Modell von Gansel Rechtsanwälte das wichtigste Akquisemedium. Die Kanzlei nutzt die Digitalisierung, um Verbraucher auf ein Rechtsproblem aufmerksam zu machen und ihnen ihre Ansprüche aufzuzeigen. Um die Kommunikation mit dem Mandanten effektiver zu gestalten, nimmt die Kanzlei Online-Tools in Anspruch und macht die Mandantenberatung digital. „Recht zu bekommen soll so einfach sein wie der Kauf eines Fernsehers“, so Wittwer. Die klassische Mandantenkorrespondenz soll durch eine nachhaltige Customer-Relation abgelöst werden. Für diesen Schritt bedient sich Gansel der Strategien von Vertriebs-Giganten wie Amazon oder Zalando in Fragen des Managements von Kundenbeziehungen.
Nicht nur das Internet als neuer Hauptinformationskanal für Verbraucher, auch bei der Rechtsberatung selbst stellen Neue Medien Rechtsanwälte vor die Herausforderung, die Vorgehensweise bei ihrer Beratung zu reflektieren und umzugestalten. Zudem verlangt der Anspruch der Mandanten selbst , dass sie Dienstleistungen unkompliziert abrufen, im Prozess der Beratung Rücksprache mit dem Anwalt halten und stets den aktuellen Stand der Mandatsbearbeitung nachvollziehen können. Das Verständnis der Rechtsberatung als Produkt dient maßgeblich einem Zweck: der Maximierung des Kundennutzens.
Die Umstrukturierung von Kanzleiarbeit und juristischen Tätigkeitsprofilen
Im zweiten Vortrag stellten die Gansel-Mitarbeiter Philipp Caba und Jan Lampe die These auf, dass mit Hilfe von Legal Tech in Zukunft wenige große Player den Verbrauchermarkt definieren würden. Startups spielten in der Technologisierung des Rechtsmarktes deshalb eine so große Rolle, weil sie in digitalen Prozessen denken. Sie erkennen das Erfordernis, Abläufe umzukrempeln und zu hinterfragen, so die Referenten. Gegenwärtig lässt sich die Einbeziehung von Legal Tech in die Kanzleiarbeit laut Caba mit der Entwicklung eines Fließbandsystems für die juristische Bearbeitung vergleichen: „Wir verklagen Autokonzerne, so wie diese Autos produzieren.“ Ein wichtiger Schritt dabei ist der Weg vom aktenbasierten zum aktenübergreifenden Arbeiten. Das Ziel ist die Produktion von 100 verschiedenen Klagen auf Knopfdruck. Der Anspruch ist dabei aber auch, den Sachverhalt im Schreiben zu verarbeiten, erklärte Caba. Dies geschehe durch KI bei Schreiben mit wenigen Sachverhaltsinformationen, wie etwa bei einer Ladung. Fließtext hingegen müsse in strukturierte Daten übersetzt werden. Dies erfordere Input-Management sowie die Berechnung des Outputs mit juristischem Fachwissen.
Aus dem alternativen Ansatz der juristischen Arbeitsweise ergeben sich neue juristische Berufsbilder:
- Der Legal Architect denkt in rechtlichen Abhängigkeiten und leistet so die juristische Kernarbeit, um die Fallbearbeitung in digitale Abläufe zu übersetzen.
- Der Legal Engineer übersetzt die juristischen Argumente in technische Prozesse. Dies verlangt juristische Kompetenzen und technisches Interesse.
- Der Legal Operationsmanager schließlich wendet die technischen Prozesse an.
Diese Profile sind laut Caba geprägt durch das Denken in digitalen Strategien, technologie- und datenbasierte Arbeit und eine vom Juristendasein entstaubte Mitarbeiterkultur.
Das Lernen aus Daten vergangener Streitfälle
Über Legal Data Analytics sprach Boris Gendelev, der Datenfachmann der Kanzlei. Die Relevanz seiner Rolle bei der Mandantenbetreuung wird in einem Punkt schnell deutlich: Der Mandant verlangt von der Kanzlei eine Erfolgswahrscheinlichkeitsprognose für die rechtliche Vertretung. Das nötige Instrument, um eine Chanceneinschätzung abgeben zu können, nennt sich „Predictive Case Analytics“. Die Analyse bisher veröffentlichter Entscheidungen zu vergleichbaren Sachverhalten arbeitet auf Grundlage von:
- strukturierten Falldaten;
- strukturierten Entscheidungsdaten, wobei ein Problem die mangelnde Entscheidungszugänglichkeit darstellt; sowie
- einem Vorhersagemodell.
Nicht alle relevanten Entscheidungen werden veröffentlicht, daher bilden auch veröffentlichte Entscheidungen nicht zwingend die Rechtsentwicklung ab. Vielversprechend sei für den Datenanalysten der Rückgriff auf Gerichtsstatistiken, um abzuschätzen, in welchem Gerichtsbezirk eine Klage am besten anhängig gemacht werden sollte. Wesentlich sei vor allem, die eigenen Erfahrungen vor Gericht und damit zusammenhängende Daten mit Blick auf zukünftige Verfahren zu archivieren. Für Rechtsfragen, die bislang nur vereinzelt Gegenstand von Gerichtsverfahren waren, müssten entsprechende Fälle erst vor Gericht gebracht und Daten generiert werden. Die Relevanz von Data Science bestehe darin, im Anschluss das Erkenntnispotenzial fruchtbar zu machen.
Anforderungen und Möglichkeiten digitaler Nachwuchsrekrutierung
Der letzte Redner des Abends plädierte klar für eine neue Mitarbeiterkultur in der juristischen Branche. Sebastian von Glahn, Geschäftsführer der Recruiting-Platform TalentRocket, sprach über die neue Generation der Juristen, HR-Tech und den “War for Talents” der umsatzstarken Kanzleien. Um trotz des Rückgangs ausgebildeter Volljuristen ein erfolgreiches Recruiting zu betreiben, bedürfe es bei juristischen Arbeitgebern eines überzeugenden Employer Brandings. Die Nachwuchsrekrutierung könne zudem von einem datenbasierten Ansatz profitieren.
Letzteres zeige sich insbesondere in der Inanspruchnahme der Ein-Klick-Bewerbung durch jobsuchende Nachwuchsjuristen und einstellende Kanzleien. Angehende Juristen, vor oder nach dem ersten, oder auch schon mit dem zweiten Staatsexamen, können sich mit diesem Tool von TalentRocket zeitökonomisch auf eine bei der Vermittlungsplattform ausgeschriebene Stelle bewerben, indem sie mit einem Klick die von ihnen hinterlegten Bewerbungsunterlagen an das Unternehmen mit der freien Stelle verschicken. TalentRocket, die als Online-Plattform das HR-Outsourcing für juristische Arbeitgeber übernehmen, können durch Rückgriff auf die digital akquirierten Daten vorheriger Bewerbungsprozesse einem Match zwischen Nachwuchsjurist*in und Kanzlei mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg verhelfen.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich der Geschäftserfolg auch im Rechtsmarkt zunehmend durch die richtige Auswertung von Daten beeinflussen lässt oder gar davon abhängt, gelangte der CEO von zu der weiteren These, dass Nicht-(Voll-)Juristen heute genauso in Kanzleien eingebunden werden müssten, wie Anwälte. Der Ansatz interdisziplinärer Kollaboration tritt bei Gansel deutlich zu Tage: Dort arbeiten von insgesamt 200 Mitarbeitern nur 30 als Volljuristen.
Die neuen Anforderungen an die Personalstruktur in Verbindung mit dem Mentalitätswandel in Sachen Arbeit und Karriere bei der „Generation Y“ verlangten von den Arbeitgebern auch eine Neuausrichtung im Personalmarketing. Immer weniger akzeptierten die erfolgreichsten Absolventen der juristischen Staatsprüfung, den Status Quo, dass „die Besten“ der Associates 70 Stunden ihrer Woche an die branchenführenden Sozietäten und Partnerschaften verkaufen, weil die Besten das ebenso machen. Der Ansatz, einen Wettstreit daraus zu machen, wer im Jahr die meisten Nächte im Büro verbringt, wird zunehmend in Frage gestellt. Diese Entwicklung zieht nach sich, dass sich Großkanzleien als Marke neu erfinden müssen, um einem Personalmangel zu entgehen. Die gelungene Darstellung einer zeitgemäßen Marke ist mehr denn je der Erfolgsfaktor für den Einstellungserfolg der Kanzleien. Sie müssen ihre Werte neu definieren, geschickt nach außen transportieren und letztendlich auch tatsächlich leben, so von Glahn.
Eine historische Chance für Verbraucher
Für Verbraucher besteht in der Bereitstellung neuorientierter technischer Lösungen für Massenverfahren die Chance, ihre Rechte besser durchsetzen zu können. Sie hatten ursprünglich nicht den Vorteil, wie Konzerne die Kosten einer teuren Vertretung auf alle Einzelfälle umzulegen und einmal geschaffene Schriftsätze wiederzuverwenden. Legal Tech ermöglicht den Rechtsdienstleistern, geografische Begrenzungen aufzuheben und so die Erkenntnisse aus der Vielzahl der Fälle für den Einzelfall fruchtbar zu machen.
Gansel Rechtsanwälte will mit ihrem technologie-orientierten Ansatz den Anforderungen von Mandant*innen und Arbeitnehmer*innen in der juristischen Branche begegnen. Die Kanzlei begreift die Rechtsberatung als mehrdimensionales und interdisziplinäres Produkt. Recruiting-Manager Alexander Knorr verdeutlichte, wie die Kanzlei sich dieses Ziels annimmt: Die Anwälte verlassen regelmäßig ihre Position als Juristen und nehmen die äußere technische Perspektive von Entwicklern, Datenanalysten und Prozessmanagern zur Effektuierung ihrer juristischen Arbeit ein. Die dafür maßgeblichen Kernkompetenzen sind die rechtliche Beurteilungsfähigkeit, die Übersetzung der Beurteilung in Code und die Automatisierung eines solchen Prozesses. In der Folge erfindet sich die Kanzlei stetig neu. „Wir haben eine Rakete in 10.000 m Höhe geschossen, sind jetzt am Mond angelangt und nehmen Kurs in Richtung Mars“, so Jan Lampe.
Foto: FFI-Verlag
Impressionen vom Event
Philipp Kürth ist Student der Rechts-
wissen-
schaften an der Humboldt Universität zu Berlin. Er begeistert sich für die neuen technischen Entwicklungen und ihre rechtlichen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz. Er ist studentischer Mitarbeiter der Humboldt Consumer Law Clinic für Verbraucherrecht (HCLC) sowie Mitglied des Arbeitskreises Legal Tech der juristischen Fakultät der Humboldt Universität.