Dreht sich die deutsche Legal Tech-Szene im Kreis?
Seit etwa drei Jahren schießen immer mehr Legal Tech-Events und -Fachmedien aus dem Boden. Doch selbst nach dem Digitalisierungsschub durch Corona hat Legal Tech die Mitte der Anwaltschaft noch lange nicht erreicht. Kritische Stimmen behaupten, dass „Legal Techies“ und „klassische Kanzleien“ in zwei Lager auseinanderdriften. Gleichzeitig würden sich die Diskussionsthemen innerhalb der Legal Tech-Szene immer häufiger wiederholen. Dreht sich die deutsche Legal Tech-Szene im Kreis?
Björn Frommer, Mitgründer des Legal Tech-Verband Deutschland e. V., Anwalt und Legal Tech-Unternehmer spricht im ersten Teil des Interviews mit legal-tech.de darüber, wo die Legal Tech-Szene in Deutschland heute steht und ob eine Trennung zwischen Legal Tech-Szene und Anwaltschaft wirklich existiert.
Herr Frommer, wo steht Legal Tech in Deutschland aktuell aus Ihrer Sicht?
Dafür müsste ich mich zunächst an einer Definition von Legal Tech versuchen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir hier überhaupt von einem gemeinsamen Verständnis ausgehen können. Es gibt diejenigen, die sich dem Legal Tech-Begriff sehr technisch nähern, zum Beispiel die Produzenten und Produzentinnen von Software. Dann gibt es die Vertreter:innen aus dem Bereich der Legal Tech-Dienstleistungen für Verbraucher, die ein sehr klares Bild davon haben, was Legal Tech für sie bedeutet. Und schließlich gibt es die Anwendersicht, also z. B. die Anwaltschaft, in der sich allerdings noch kein homogenes Verständnis von Legal Tech festmachen lässt. Und dann wäre da noch die Mandantschaft, seien es Unternehmen oder auch Privatpersonen, die jeweils ihre eigenen Vorstellungen von Technologie im Rechtswesen mitbringen werden.
Der Begriff „Legal Tech“ löst bei mir eine gewisse Ermüdung aus. Ich würde lieber von der „Digitalisierung des Rechtsmarkts“ sprechen: Traditionelle Arbeitsschritte oder ganze Prozesse, die in die digitale Welt überführt werden.
Mit „Legal“ hat das Ganze genaugenommen nicht allzu viel zu tun. Wir Jurist:innen haben die Technologie nicht erfunden. Wir nutzen lediglich das, was technologisch möglich ist und versuchen, es zu adaptieren und in unseren Fachbereich zu überführen. Und weil der Begriff „Legal Tech“ ein so weites Spektrum umfasst – die elektronische Aktenführung, beginnend mit dem PDF eines Schriftsatzes, ist genauso Legal Tech wie die automatisierte Vertragsanalyse mittels künstlicher Intelligenz – verbietet sich schon fast eine allgemeine Antwort zum Stand von Legal Tech in Deutschland.
Digitalisierung in der Anwaltschaft ist facettenreich
Positiv gesagt würde ich dennoch von einem unaufhaltsamen Trend sprechen, der nicht mehr unbedingt einer einzigen Begrifflichkeit bedarf. Wir erleben Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen, die sich seit Jahren intensiv und umfassend der Digitalisierung stellen. Das ist mehr als facettenreich. Hier geht es nicht nur um ein paar Tools, die erworben werden, sondern die Arbeitsweise als solche, die operativ, technologisch, kulturell und – soweit es um Traditionen geht – fast auch schon philosophisch hinterfragt wird. Daneben gibt es diejenigen, die insbesondere Corona-bedingt der Digitalisierung zuletzt mehr Aufmerksamkeit widmen mussten und natürlich auch die – und das sage ich mit einem Augenzwinkern – die viel und laut darüber reden.
Die Gruppe derjenigen, die der Digitalisierung eher ablehnend begegnet, scheint mir mittlerweile sehr klein.
Und dennoch würde ich kritisch anmerken: Würde sich unsere Zunft dem Fortschritt im selben Maße und Tempo stellen, wie wir es von einer zuweilen mittelalterlich anmutenden Verwaltung zu recht erwarten, würde die Rakete endlich abheben und sich nicht nur im Bau befinden. Davon bin ich jedenfalls zutiefst überzeugt: vom großen Potential, den selbst der kleinste Schritt an Digitalisierung mit sich bringt.
Viele haben das Gefühl, dass die Legal Tech-Szene ein konträres Lager zur „traditionellen Anwaltschaft“ bildet. Woher rührt diese Trennung – ist sie überhaupt Realität oder eher konstruiert?
Dem würde ich gern mit einem Bild begegnen, das uns im Winter auf der Piste begegnet. Der vermeintliche Graben zwischen Skifahrer:innen und Snowboarder:innen. Man gewinnt gerne den Eindruck, dass sich Skifahrer:innen und Snowboarder:innen hassen. Tatsächlich habe ich diesen vermeintlichen Zwist nie erlebt. Aber wir Menschen spielen halt oft mit Klischees.
Und ich befürchte, Ihre Frage zielt auf einen ganz ähnlichen Effekt ab. Die junge Legal Tech-Szene wurde über viele Jahre hinweg gehypt. Und als sie reifer wurde, kamen die ersten Kritiker und Kritikerinnen auf den Plan, die es besser wussten. Und jetzt, da Vieles und Viele erwachsen geworden und zu ernst zu nehmenden Playern herangewachsen sind, passiert das, was immer passiert. Einige versuchen, Gräben zu graben. Mich lässt das einigermaßen kalt.
Eine echte Lagerbildung kann ich nicht erkennen.
Eher – entschuldigen Sie das harte Wort – einen Stellvertreterkrieg, wenn es etwa um die Liberalisierung des Berufsrechts geht, die naturgemäß im Kontext von Digitalisierungsthemen eine Rolle spielt. Da müssen dann martialische Bilder von Legal Tech-Anbietern herhalten, die den Anwälten und Anwältinnen die Arbeit wegnehmen. Diese polemischen Zuspitzungen stehen dem Fortschritt im Wege und nutzen zumeist niemandem. Und auch im politischen Berlin haben sie sich abgenutzt. Gebracht haben sie zuletzt jedenfalls nichts. Die Bundesregierung ist zahlreichen Forderungen nach mehr Modernität gefolgt, zu sehen etwa bei der Öffnung im Bereich Erfolgshonorar. Und verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich ist es legitim, in der Sache anderer Meinung zu sein, solange man sich dem Fortschritt insgesamt nicht verschließt.
Ganz persönlich möchte ich anmerken, dass ich im sog. Legal Tech-Lager niemanden kenne, der Vorbehalte gegen Kollegen und Kolleginnen hätte, die sich mit der Veränderung nicht ganz leichttun. Selbst eingefleischten Techies fällt es zuweilen schwer, sich immer wieder neuen Trends zu stellen. Wie muss es dann erst vielen Anwendern und Anwenderinnen gehen? Das Festhalten am Bekannten und Gewohnten ist mehr als menschlich. Solange man es schafft, den eigenen Schweinehund zu überwinden, und sei es mithilfe von (Legal Tech-)Beratungen. Das sollte man sich selbst und dem eigenen Auftraggeber stets schuldig sein. Also, einen Riss zwischen Anwaltschaft und Legal Tech-Anbietern sehe ich nicht wirklich.
Viele Menschen fordern, dass die Legal Tech-Szene mehr mit der „normalen Anwaltschaft“ zusammenarbeiten sollte. Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen, dass das funktionieren kann?
Ich sehe das recht optimistisch und meiner Meinung nach stehen die Chancen sehr gut. Die Wunden aus den diversen Rechtstreitigkeiten, etwa um die Zulässigkeit von Inkassomodellen, werden verheilen. Unsere Debatten von heute werden in zehn Jahren niemanden mehr interessieren. Als Mandant oder Mandantin erwarte ich zu Recht eine Beratung, die auch technisch auf dem neuesten Stand ist. Ich erwarte von einer Kanzlei, dass sie nicht nur inhaltlich brilliert, sondern auch mit der Zeit geht. Themen wie Chancengleichheit, Vielfalt, Nachhaltigkeit etc. rücken immer mehr in den Fokus. Und das nicht nur in Großkanzleien, sondern auch bei Mittelständlern.
Ich werde als Anwalt oder Anwältin weder vielversprechende Mandate akquirieren können noch junge Mitarbeiter:innen für mich begeistern, wenn ich den Zeitgeist missachte. Und da gehört nun mal der technische Fortschritt dazu.
Und bitte vergessen Sie nicht, dass viele der hier angesprochenen Angebote aus der sog. Legal Tech-Szene von Anwälten und Anwältinnen und nicht etwa Berufsfremden stammen. Von Kolleg:innen, die schlichtweg neue Wege gehen wollten, angesichts starrer berufsrechtlicher Zwänge aber kaum Bewegungsspielraum hatten. Ich mag hier nicht alle Themen ausbreiten, aber ein Fremdfinanzierungsverbot in diesen Zeiten? Irgendwer hat hier scheinbar noch immer nicht verstanden, dass sich die finanzpolitischen Rahmenbedingungen komplett verändert haben. Und dennoch sollen wir Anwälte und Anwältinnen zur Sparkasse gehen und um Kredite bitten, um zum Beispiel das eigene Geschäft zu digitalisieren? Das ist absurd. Wenn ein Bundesverfassungsgericht überhöhte Steuerzinsen in Höhe von sechs Prozent unlängst als „evident realitätsfern“ bezeichnet und für verfassungswidrig erklärt, bringt es unser Problem exakt auf den Punkt. Wir müssen globale Trends schneller erkennen und adaptieren, um nicht immer hinterherzulaufen bzw. auf die Gerichte zu setzen.
Foto: Adobe Stock/©Real Vector
Björn Frommer ist Rechtsanwalt und Managing Partner von FROMMER LEGAL. Als Anwalt beschäftigt er sich seit fast 20 Jahren mit der Digitalisierung juristischer bzw. operativer Prozesse. Gemeinsam mit Partnern hat er JUNE ins Leben gerufen, eine modulare Cloud-Plattform zur Abwicklung von juristischen Massenverfahren und Großprojekten. Björn Frommer ist Mitgründer, ehemaliger Vorstand und nunmehr Beirat des Legal Tech Verbandes Deutschland.