Von FFI-Verlag
Der EDV-Gerichtstag feiert sein 30. Jubiläum und stand dieses Jahr unter dem Motto: „Mensch oder Maschine – Wer prägt die Zukunft der Rechtsanwendung?“. Vom 22. bis 24. September 2021 fand die Veranstaltung – auch dieses Jahr wieder digital – statt und bot eine Fülle an Vorträgen und Arbeitskreisen mit hochkarätigen Referent:innen und gewinnbringenden Diskussionen. Für diejenigen, die das Event verpasst haben, gibt es die Highlights aus fünf Vorträgen zum Nachlesen.
Digitale Intuition entwickeln
Wieviel müssen Juristinnen und Juristen von morgen über Informatik wissen? Und wieviel müssen Informatiker über Jura wissen? Diese Frage kam im Zuge des Vortrags „Die Digitalisierung des Rechtssystems in Deutschland – Ausgewählte Empfehlungen zur strategischen Ausrichtung des EDV-Gerichtstags“ auf.
Anstatt programmieren zu können, plädierten die Referenten, Prof. Dr. Florian Matthes von der TU München und Dirk Hartung von der Bucerius Law School dafür, dass Juristinnen und Juristen eine „digitale Intuition“ entwickeln. Dirk Hartung merkte an, dass in Singapur, im Zuge sich verändernder Anforderungen an zukünftige Arbeitskräfte, Doppelstudiengänge geschaffen wurden. In Deutschland seien beispielsweise Aufbaustudiengänge zur Entwicklung der digitalen Kompetenz vorstellbar. Und nicht zuletzt helfe die Arbeit in interdisziplinären Teams, nach und nach zu verstehen, wie Jurist:innen und Informatiker:innen jeweils kommunizieren.
KI in der Justiz: Wo stehen wir?
Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte sind nur die ersten Schritte auf dem Weg zur vollständigen Digitalisierung der Justiz. Denn, so wurde im Arbeitskreis KI in der Justiz am Donnerstag deutlich: Aus dem Einsatz von künstlicher Intelligenz ergeben sich völlig neue Möglichkeiten für eine Erleichterung und Verbesserung der justiziellen Arbeit.
Das Problem, das sich derzeit noch im Zusammenhang mit dem Thema machine learning ergibt, ist, dass zum Trainieren einer KI erst einmal massenhaft Daten zur Verfügung stehen müssten. Ist dies einmal der Fall, ist ein mögliches Einsatzgebiet die Anonymisierung von Entscheidungen - die für Veröffentlichungen, die Übersendung an Dritte oder zum Trainieren von KI-Anwendungen benötigt wird. Doch wo stehen Justiz und Verwaltung eigentlich derzeit in Sachen KI-Einsatz?
Malte Büttner, Referent beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz stellte das derzeit laufende Projekt Entwicklung eines Chatbots für die Rechtsantragsstellen vor, das zu erheblichen Produktivitätsgewinnen sowohl für Rechtsantragsstellen als auch für Nutzer:innen führen soll, indem es anfängliche Hilfestellungen bei gerichtlichen Antragstellungen leistet. Aktuell wird das Feinkonzept erarbeitet, bevor dann im Herbst die Entwicklung des Prototyps ausgeschrieben wird.
Außerdem wurde im Rahmen des Arbeitskreises das Projekt Tech4Germany vorgestellt, das zum Ziel hat, die Bundesverwaltung in die digitale Zukunft zu begleiten, und in interdisziplinären Teams prototypische Softwareprodukte zu entwickeln. Zu den laufenden Projekten gehörten u. a. die Entwicklung eines Prototyps für Videoberatungen mit der Deutschen Rentenversicherung, sowie das Vorhaben, die Portale des Bundes gesetze-im-internet.de, rechtsprechung-im-internet.de und verwaltungsvorschriften-im-internet.de, mobil zu optimieren und die Lesbarkeit zu verbessern.
Mündliche Verhandlung per Videokonferenz
Warum erst jetzt?, fragte Professor Dr. Georg Borges zum Auftakt des Arbeitskreises „Videoverhandlung – Mündliche Verhandlung per Videokonferenz“. Warum gibt es immer noch Richter und Richterinnen, die Videoverhandlungen skeptisch gegenüberstehen? Was spricht dagegen, alles per Videoverhandlung durchzuführen?
Antworten auf diese Fragen wurden im Arbeitskreis, auch unter reger Teilnahme der Zuhörer:innen, diskutiert. Zunächst berichteten die Richter Jan Spoenle und Benedikt Windau von ihren Erfahrungen mit der Videoverhandlung. Beide waren sich einig, dass sich Videoverhandlungen für das Zivilgericht hervorragend eigneten. Videoverhandlungen sind zeitsparend und umweltschonend, wenn die Teilnehmenden nicht mehr für einen zehnminütigen Vortrag weite Strecken zurücklegen müssen. Besonders positiv bewertet wurde die Vernehmung von Sachverständigen. Sachverständige könnten ihre Dokumente für alle gut sichtbar am Bildschirm freigeben, anders als im Gericht. Kritischer betrachtet wurde die Vernehmung von Zeugen und Zeuginnen. Eine Videoverhandlung würde zwar funktionieren, allerdings bemerkten beide Richter, dass online eine gewisse Dimension fehle. Es sei z. B. schwieriger einzuschätzen, was emotional in einer Person vorgeht.
Diese Einschätzung teilte auch Karin Just, Richterin am Handelsgericht Wien. In einer Verhandlung oder Zeugenvernehmung komme es auch auf die nonverbale Kommunikation wie den Blickkontakt an – und das sei per Video einfach nicht in demselben Ausmaß sicherzustellen. Sie merkte außerdem an, dass viele Richter und Richterinnen gerne Videoverhandlungen durchführen würden, das aber aufgrund mangelnder technischer Ausstattung und Support nicht könnten. Hier sollte eine flächendeckende technische Ausstattung angestrebt werden.
Vormarsch der elektronischen Akte
Die elektronische Akte muss bis 2026 flächendeckend in allen Gerichten und Staatsanwaltschaften eingeführt sein – so der Gesetzgeber. Da verwundert es nicht, dass auch die E-Akte ein Thema auf dem diesjährigen EDV-Gerichtstag war. Im Arbeitskreis „Die Einführung der elektronischen Akte aus Sicht der Rechtswissenschaft und der gerichtlichen Praxis“ berichteten u. a. Hans-Peter Freymann, Präsident des Landgerichts Saarbrücken und Bernd Klasen, Direktor des Amtsgerichts Homburg vom Pilotprojekt zur Einführung der elektronischen Akte an AG und LG. „Die Frage lautet nicht, ob man die E-Akte einführt, sondern wie“, so Freymann. Ein zentraler Bestandteil des Erfolgs sei es, alle Mitarbeitenden mitzunehmen – auch die Unwilligen und Verweigerer. Die Mitarbeitenden seien sehr heterogen und einige hätten, laut Bernd Klasen, die Sorge, in Zukunft evtl. nicht mehr gebraucht zu werden. Hier müsse man ansetzen.
Den Blick aus der Anwaltschaft lieferte Dr. Thomas Lapp, RA und Vorstandsmitglied des Deutschen EDV-Gerichtstags e.V. Auch hier sei es das Ziel, allen Beteiligten die Angst zu nehmen und die Vorteile der Arbeit mit der E-Akte zu verdeutlichen:
Einen positiven Ausblick auf die Arbeit mit der elektronischen Akte bot die von Prof. Dr. Christoph Sorge und Dr. Frederik Möllers von der Universität des Saarlandes vorgestellte Studie von Dose/Lieblang. Diese zeigt: Diejenigen, die die E-Akte bereits nutzen, seien von ihrer Zukunft überzeugt und bewerteten den Nutzen zu 50 Prozent als hoch bzw. eher hoch. Zudem hätten Anwender:innen weniger Probleme mit der Nutzung, als Nichtanwender:innen erwarteten.
Vorbild Österreich?
Am dritten und letzten Tag folgte der Arbeitskreis rund um die elektronischen Postfächer. Besonders interessant: der Einblick in die österreichische Herangehensweise an das Projekt „Digitalisierung der Justiz“. Martin Hackl, Chief Digital Officer des Justizministeriums in Wien, gewährte den Teilnehmenden Einblicke in das Portal „JustizOnline“, über das Anwältinnen und Anwälte komplette Akteneinsicht für ihre jeweiligen Verfahren erhielten. Auch Zeuginnen und Zeugen könnten darüber auf die für sie relevanten Verfahren und Unterlagen zugreifen.
Dieses Serviceportal, das des Weiteren mit dem Chatbot „Justitia“ und Justizformularen zum Download ausgestattet ist, beschreibt Hackl als zeitgemäßes Angebot für Menschen, die an Plattformen wie Amazon und Netflix gewöhnt seien. Denn das Portal ermögliche eine orts- und zeitunabhängige Erreichbarkeit sowie schnelle Antworten auf alltägliche juristische Fragen mit nutzerfreundlicher Oberfläche.
Fazit: Abstraktes Motto - praxisnahe Vorträge
Auch im Digitalformat punktete der diesjährige EDV-Gerichtstag mit spannenden Vorträgen und regen Diskussionen. Trotz des zunächst abstrakt scheinenden Mottos: „Mensch oder Maschine?“ blieben die Vorträge keinesfalls theoretisch oder realitätsfern: Abstrakte Themen wie künstliche Intelligenz wurden endlich greifbar - und aktuelle Themen wie Videoverhandlungen und die elektronische Akte praxisnah vermittelt.
Foto: Adobe Stock/©Andrey Popov
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