papierarme Kanzlei

Das papierarme Büro – Wunsch und Wirklichkeit

Von Stefan Loebisch

Dem früheren Siemens-Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer wird das Zitat zugewiesen, das papierlose Büro sei genauso weit weg wie die papierlose Toilette. Das Zitat stammt aus den frühen 2000er-Jahren. Seither ist viel geschehen: Corona hat das Arbeitsleben umgekrempelt und seit Beginn des Jahres 2022 gilt für das beA die aktive Nutzungspflicht. Anlass also für eine kritische Überprüfung.

Blick zurück: Steinzeit vor 20 Jahren

Im Jahr 2007 brachte Apple sein erstes iPhone auf den Markt und revolutionierte damit den Umgang mit dem Internet und der Datenverarbeitung: Daten und Informationen konnten plötzlich von jedem Ort aus abgerufen und bearbeitet werden. Die Vorstellung, dass nur am Schreibtisch im Büro gearbeitet wird, löste sich auf.

Bereits im Frühsommer 2005, nach meinem Ausscheiden aus einer eher konservativ organisierten Bürogemeinschaft und Gründung meiner Einzelkanzlei ohne ständiges Sekretariat, stellte ich schlagartig von der konventionellen Aktenführung auf die rein digitale Akte um. Ich hatte nicht mehr die Zeit, mit Locher und Tacker zu hantieren und Papierberge durch die Kanzlei zu tragen. Zukünftig, so meine Vorstellung, würde ich nur noch digitale, papierlose Akten anlegen und führen: Eingehende Briefpost wird gescannt und als im Volltext durchsuchbares PDF abgelegt, ausgehende Schreiben und Schriftsätze liegen in der Kanzlei ebenfalls nur als Datei vor. Die Kommunikation mit der Mandantschaft erfolgt so weit wie möglich elektronisch per E-Mail oder – zumindest damals noch – per digitalem Telefax aus der Akte und in die Akte.

Gerichtstermine, so meine Vorstellung, würde ich ebenfalls nicht mehr mit einer Papierakte in der Hand wahrnehmen, sondern nur mit dem Laptop.

Realitätscheck: Papierarm ja, papierlos nein

Das Ziel der rein digitalen Aktenführung habe ich erreicht. Auch ein erheblicher Teil meiner Kanzleibibliothek ist digital.

Bei meiner ersten Strafverhandlung ohne Papierakte, nur mit Laptop, drohte mir der tobende Richter die sofortige Beschlagnahme meiner Hardware an – elektronische Geräte seien im Gerichtssaal angeblich verboten.

Ein kurzer gemeinsamer Blick in das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozessordnung erleichterte die weitere Rechtsfindung.

Den Traum vom papierlosen Büro habe ich noch nicht erreicht. Auf meinem Schreibtisch liegt weiterhin Papier, und sei es nur ein Schmierzettel für Notizen. Das papierarme Büro aber ist Realität – und zwar nicht mit exotischer, sündhaft teurer IT, sondern mit Allerweltstechnik, wie sie jeder örtliche Computerhändler des Vertrauens liefern kann.

Ein Ortstermin bei einem der frühen und großen, nach wie vor sicherlich führenden, Anbieter von Dokumentenmanagementsystemen im Jahr 2008 ergab: Auch dort, bei den Profis, inmitten kühler Beton-, Stahl- und Glasarchitektur, lagen noch immer Papiere auf den Schreibtischen. Kein Grund also, die eigenen Ergebnisse gering zu schätzen.

Papierakte vs. Papierarchiv

In der Tat ist gerade die Anwaltschaft noch weit entfernt von der restlos papierlosen Aktenführung: Vollmachten der Mandantschaft müssen im Original archiviert werden, damit sie bei Kündigungen und anderen einseitigen Erklärungen mit vorgelegt werden können. Andere Papierurkunden werden im Original langfristig zu Beweiszwecken benötigt. Vielleicht führt die Mandantschaft ihre Akte noch konventionell und wünscht, die eingegangenen Schreiben per Briefpost zu erhalten.

Dies alles beschränkt sich aber im Regelfall auf einige wenige Blatt Papier und die bloße Archivierung. Eine Handvoll Ordner im Regal genügen dafür. Die Akte, mit der im Tagesbetrieb gearbeitet wird, ist nur noch eine geordnete Sammlung von Dateien.

Vorteile der digitalen Akte

Informationen bestehen heute nicht mehr nur aus geschriebenem Text. Genauso spielen Bild-, Video- und Audiodateien eine tragende Rolle in der Kommunikation und damit auch im Rechtsleben. All diese digitalen Medien ließen sich in einer konventionellen Papierakte überhaupt nicht abbilden. Sie würden einen Medienbruch, eine doppelte Aktenführung, voraussetzen – hier die Papierakte für die Schriftstücke, dort eine zusätzliche digitale Akte für Multimediadateien. Muss die E-Mail wirklich ausgedruckt werden? Warum also nicht gleich eine umfassende digitale Akte für alle Arten von Dokumenten?

Aus der ausschließlich digitalen Aktenführung folgt der nächste Vorteil: Liegen auch die eingegangenen Schriftstücke als durchsuchbare Dateien vor, ist – sogar aktenübergreifend – eine Volltextsuche möglich. Es ist nicht mehr erforderlich, Papierstapel nach dem gesuchten Wort, nach dem gesuchten Satz zu durchforsten. Der Begriff wird einfach in das Suchfenster eingegeben; allenfalls Sekunden später steht fest, in welcher Akte, in welchem Dokument, an welcher Stelle man fündig wird.

OCR-Programme (ORC = Optical Character Recognition), die in ein gescanntes PDF einen durchsuchbaren Textlayer einfügen, sind mittlerweile Massenware und häufig bereits Bestandteil der Scansoftware.

Weiterer Vorteil der digitalen Aktenführung: Dokumente lassen sich miteinander verknüpfen. Aus einem Dokument kann mittels Mausklick sofort ins nächste Dokument gesprungen werden.

Ein Beispiel ist die typische Klagezustellung. Sie besteht im Regelfall aus der Klageschrift mit Anlagen, dem Zustellungsschreiben der Geschäftsstelle und der ersten verfahrensleitenden Verfügung des Gerichts. Das Zustellungsschreiben verweist auf die Verfügung, die Verfügung verweist auf die Klage. Mit jedem üblichen PDF-Editor lässt sich das Wort „Verfügung“ im Zustellungsschreiben dorthin verlinken. In der Verfügung kann wiederum das Wort „Klage“ verlinkt werden. Öffnet man in der elektronischen Akte das Zustellungsschreiben und klickt auf „Verfügung“, poppt diese auf dem Bildschirm auf. Ein Klick auf das Wort „Klage“ macht den Klageschriftsatz auf dem Bildschirm sichtbar – und so weiter ganz nach Bedarf und Belieben.

Die digitale Akte ist sicher

Schließlich der wohl größte Vorteil der digitalen Aktenführung: die Datensicherheit. Speicherplatz ist billig geworden. Der gesamte digitale Datenbestand lässt sich doppelt, dreifach, vielfach, an verschiedenen Orten, auch in der Cloud, spiegeln und sichern. Die Papierakte dagegen ist ein Einzelstück – kommt sie abhanden oder wird sie vernichtet, sind sämtliche darin enthaltenen Informationen verloren.

Im Passauer „Jahrtausendhochwasser“ im Juni 2013 wurde meine damalige Kanzlei vollständig zerstört. 70 Zentimeter hoch stand in den Räumen eine braune, ölige, schlammige Brühe. Ich weiß nicht, ob ich meine Anwaltstätigkeit hätte fortsetzen können, wenn ich damals noch mit Papierakten gearbeitet hätte. So aber genügte es, die EDV in Sicherheit zu bringen. In meiner Wohnung richtete ich mir auf zwei, drei Quadratmetern ein Notbüro ein – und ohne einen einzigen Tag der Betriebsunterbrechung konnte ich, Hochwasser hin oder her, meine Anwaltstätigkeit fortsetzen. Zerstörte Möbel lassen sich leicht ersetzen. Wie sieht es mit zerstörten Informationen aus?

Wünsche für die Zukunft

Konsequent betrieben, ist digitale Aktenführung auch digitales Wissensmanagement. Die Volltextsuche und die Möglichkeit, Dokumente untereinander zu verlinken, sind nur erste Ansätze. Gerade im anwaltlichen Tagesgeschäft geht es darum, Informationen, die sich in dem einen Dokument befinden, mit weiteren Informationen aus einem anderen Dokument zu verknüpfen.

Die Hersteller von Dokumentenmanagementsystemen (DMS) haben diesen Aspekt des digitalen Wissensmanagements bislang nicht wirklich auf ihre Agenda genommen. Das gilt sowohl für Anbieter von Kanzleisoftware als auch für Anbieter eigenständiger DMS-Software. Das Standardszenario in der Werbung der DMS-Anbieter ist nach wie vor der Rechnungseingang und die Weitergabe von der Poststelle über die Fachabteilungen bis zur Buchhaltung.

Die Anforderungen der Anwaltschaft sind weit komplexer. Hier geht es nicht nur darum, Eingangspost möglichst rasch und reibungslos durch die Kanzlei zu schleusen oder einzelne Dokumente möglichst schnell im Archiv zu finden. Kern der anwaltlichen Tätigkeit ist es, Informationen aus unterschiedlichen Quellen zueinander in Relation zu setzen und das Ergebnis schließlich reproduzierbar zu machen.

Wünschenswert wäre damit eine automatisierte Analyse des Dokumenteninhaltes mittels künstlicher Intelligenz. Nur eines von vielen Beispielen ist die Analyse, in welchen weiteren Dokumenten – vielleicht in derselben Akte, vielleicht in einer anderen Akte zu einem früheren Fall – sich passende und nützliche Informationen befinden. Weitere Beispiele sind die automatische Verlinkung auf Gesetztestexte und andere Fundstellen oder eine automatisch erstellte Chronologie anhand der Datumsangaben im Text. Hier steht die Entwicklung erst in den Startlöchern.

Die Anbieter von Content-Management-Systemen für Blogs und Websites machen es vor: Seiten mit ähnlichem Inhalt werden automatisch mit angeboten. Ebenso wird angezeigt, welche anderen Seiten auf die gerade geöffnete Seite verweisen.

Nicht warten, sondern starten

Bald 20 Jahre nach dem Ausspruch von Heinrich von Pierer steht die rein digitale Aktenführung noch immer erst am Anfang ihrer Möglichkeiten. Die vielen Vorteile schon heute zeigen aber: Die Wünsche für die Zukunft sind kein Grund, an den Papierbergen der Vergangenheit festhalten zu wollen.

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Bild: Adobe Stock/©Tierney
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Rechtsanwalt Stefan Loebisch wurde im Herbst 1999 zur Anwaltschaft zugelassen. Seit dem Jahr 2000 hat er seinen Schwerpunkt auf dem Gebiet des Internet-, Urheber- und Wettbewerbsrechts. Auch das Datenschutzrecht spielt mittlerweile eine tragende Rolle. Strafverteidigungen – meist ebenfalls mit Bezug zum Internet – und Wehrrecht runden das Spektrum ab.
Die Kanzlei ist unter www.loebisch.com zu erreichen.

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