Zum 1.10.2018 stellte das Arbeitsgericht Stuttgart als erstes Gericht in Deutschland vollständig auf die elektronische Aktenführung um. Hat der Umstieg auf die E-Akte beim Arbeitsgericht zu einer Kostensenkung geführt? Wie lassen sich Verhandlungen per Videokonferenz mit dem Prinzip der Saalöffentlichkeit vereinbaren? Diese und weitere Fragen beantwortet Richter Dr. Johannes Bader im zweiten Teil unseres Interviews zur papierlosen Arbeit am Arbeitsgericht in Stuttgart.
Wie sieht der Arbeitsalltag am papierlosen Gericht aus? Den ersten Teil des Interviews mit Richter Dr. Johannes Bader können Sie hier nachlesen.
Derzeit finden gerichtsweit ca. 50 Prozent der Verhandlungen per Videokonferenz statt – wie vereinbaren Sie das bei öffentlichen Verhandlungen mit dem Prinzip der Saalöffentlichkeit? Können externe Interessierte auch an digitalen Verhandlungen teilnehmen?
Von den Güteverhandlungen, denen im Arbeitsgerichtsprozess eine zentrale Rolle zukommt und die sich besonders gut für Videoverhandlungen eignen, findet gerichtsweit in der Tat noch immer ein sehr hoher Prozentsatz online statt. Dabei gibt es natürlich von Kammer zu Kammer durchaus Unterschiede, wie oft Anträgen nach § 128a ZPO stattgegeben wird. Wir sind aber überzeugt davon, dass auch nach der Pandemie – wann immer dies sein wird – die Videoverhandlungen einen festen Platz im Instrumentenkasten der Arbeitsgerichte behalten werden.
Dass etwa in der Vergangenheit nicht selten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für eine 20-minütige Güteverhandlung von Hamburg oder Berlin nach Stuttgart und wieder zurückgeflogen sind, ist schon mit Blick auf die Klima- und Energiekrise schlicht nicht mehr vermittelbar.
Die Videoverhandlung hat natürlich auch gewisse Nachteile, weshalb sie sich nicht für jedes Verfahren eignet. Kein Nachteil ist jedoch die (vermeintliche) Beeinträchtigung des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Alle unsere Videoverhandlungen finden nicht aus dem Richterbüro oder gar dem Homeoffice heraus statt. Verhandlungsort ist und bleibt der Sitzungssaal. Das Gericht ist dort anwesend und die Öffentlichkeit kann es auch sein. Sofern interessierte Öffentlichkeit präsent ist, werfen wir den Videostream auf den im Sitzungssaal ohnehin installierten großen Bildschirm, auf dem die Besucher und Besucherinnen dann die zugeschalteten Parteien sehen und die Videoverhandlung im Saal mitverfolgen können. Das ist nur ein Knopfdruck. Die Verhandlungssäle eines E-Akten-Gerichts in Baden-Württemberg verfügen alle über derartige Bildschirme, die sonst zur Präsentation von Akteninhalten, Vergleichsvorschlägen o. Ä. gedacht sind. Auch das Tonsignal der Videoverhandlung ist mittels der installierten Audiotechnik für alle im Saal gut wahrnehmbar. Die Justizverwaltung in Baden-Württemberg hat bei der Saalausstattung, aber auch bei der Ausstattung etwa mit WebEx-Gastgeberlizenzen, wirklich nicht gekleckert. Da hat sich einiges bewegt. Auch hybride Verhandlungen sind mit der zur Verfügung gestellten Technik möglich. Anders als die Parteien und ihre Vertreter haben externe Interessierte aber nicht die Wahl, ob sie an der Verhandlung im Saal oder durch Zuschaltung per Videostream teilnehmen. Eine virtuelle Öffentlichkeit sehen weder § 128a ZPO noch §§ 169 ff GVG de lege lata vor; und das ist auch gut so.
Hat der Umstieg auf die E-Akte beim Arbeitsgericht zu einer Kostensenkung geführt?
Diese Frage dürfte beim Justizministerium als Verantwortlicher für den Justizhaushalt besser aufgehoben sein. Grundsätzlich war der Umstieg auf die E-Akte meines Wissens aber nie ein Projekt mit dem primären Ziel der Kostensenkung. Gerade was die Personalkosten angeht, braucht man kurz- und mittelfristig nach meinem Eindruck nicht unbedingt weniger Personal. Zunächst einmal haben wir z. B. Scankräfte einstellen müssen, solange die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte noch papierhaft einreichen konnten (bis 31.12.2021). Medienbrüche sind – wie bereits erwähnt – arbeitsintensiv. Langfristig könnte das alles anders aussehen. Insoweit bin ich gespannt auf die erste Pebb§y-Erhebung nach Einführung der E-Akte, die allerdings noch einige Zeit auf sich warten lassen wird (Anm.: mit Pebb§y wird der Personalbedarf in der Justiz bestimmt). Definitiv erheblich gesunken sind der Papierverbrauch und die Portokosten.
Sie selber sind als Dozent im Rahmen des Legal-Tech-Masterstudiengangs an der Universität Regensburg tätig. Wenn Sie noch einmal am Anfang Ihrer Juristenausbildung ständen – welche Erwartungen hätten Sie, damit Nachwuchsjuristen und -juristinnen für Veränderungen wie jene, mit denen Sie sich heute beschäftigen, gewappnet sind?
Ein für mich absolut zentraler Punkt ist die möglichst frühzeitige Stärkung der Digitalkompetenz. Das kann gar nicht zeitig genug anfangen. In Deutschland haben wir insoweit, auch was etwa die Bildungspläne in den Schulen angeht, einiges versäumt.
In vielen Berufen, auch innerhalb der Richterschaft, herrscht mitunter noch die Auffassung vor: „Ich bin Jurist, kein IT-ler, mit dem Technikkram will ich nichts zu tun haben“.
Das ist zwar insoweit verständlich als niemand von uns komplexe IT-Probleme selbst lösen muss. Und natürlich ist es vorrangig Aufgabe der Gerichts- und Justizverwaltung, einwandfreie Technik sowie schnellen und hochwertigen technischen Support bereit zu stellen. Das klappt noch nicht immer und überall. Aber wir müssen auch alle selbst eine größere Offenheit für digitale Neuerungen mitbringen und bereit sein, uns entsprechend weiterzubilden.
Digitale (Grund-)Kenntnisse sind in beinahe jedem Beruf künftig essenziell. Es wird niemals digitale Unterrichtsformen geben, wenn der Lehrer sagt: „Ich bin Pädagoge, mit dem Technikkram will ich nichts zu tun haben“. Eine Medizinerin mit dieser Einstellung wird auf IT-basierte Behandlungs- oder Operationstechniken nicht zurückgreifen können - und damit einen schlechteren Job machen als sie könnte. Und so ist das auch mit den Juristen und Juristinnen: E-Akte, elektronischer Rechtsverkehr, Videoverhandlung, Spracherkennung, Online-Datenbanken etc. Unser Berufsbild und die gestellten Anforderungen wandeln sich rasant. Die Digitalisierung schafft neue Möglichkeiten, sie ist aber auch anstrengend und macht Angst. Diese Ängste und Unsicherheiten versuchen wir beim Arbeitsgericht Stuttgart ständig abzubauen, etwa mittels des bereits erwähnten Jour fixe. Die Süddeutsche Zeitung hat vor einiger Zeit im Hinblick auf eine Studie zur (mangelnden) Digitalkompetenz in Deutschland geschrieben: „Was Hänschen nicht gelernt hat, kann Hans immer noch lernen. Und Gretel auch“. Das war eine zutreffende Aufforderung zur Weiterbildung. Vieles wäre aber bedeutend einfacher, wenn man Kindern, Jugendlichen und Studierenden frühzeitig vermitteln würde: Digitalisierung geht uns alle an und Digitalkompetenzen sind in jedem Job künftig unerlässlich - auch im juristischen Bereich.
Herr Bader, vielen Dank für das Interview.
Lesen Sie im ersten Teil des Interviews wieso das Arbeitsgericht Stuttgart sich für den Umstieg auf die E-Akte entschieden hat, wie die Vorbereitungen abliefen und zu welchen Veränderungen es kam.
Foto: Arbeitsgericht Stuttgart
Dr. Johannes Bader studierte Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg sowie am King's College in London. 2009 legte er das Zweite Staatexamen ab und promovierte zum Thema „arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht“. Er ist seit 2011 Richter und seit 2019 weiterer aufsichtsführender Richter beim Arbeitsgericht Stuttgart. Dort ist er insbesondere zuständig für Fragen der elektronischen Akte und des elektronischen Rechtsverkehrs. Seit 2020 ist er Dozent im Masterstudiengang Legal Tech der Universität Regensburg.