Von Pauline Modra und Dr. Daniel Timmermann
Zugverspätungen, Fluggastrechte oder „Schummel-Software“ – in vielen Lebenssituationen stehen Verbraucherinnen und Verbrauchern auf dem Papier Entschädigungszahlungen zu. In die wirtschaftliche Bewertung eines Anspruchs müssen die Möglichkeiten seiner faktischen Durchsetzung freilich einbezogen werden. Insbesondere bei monetär geringfügigen Forderungen[1] wurzelt das rationale Desinteresse vieler Betroffener an der Rechtsverfolgung zumindest nicht primär in der Ungewissheit über die Bonität ihres Schuldners: Vielmehr scheuen sie häufig das Kostenrisiko eines Rechtsstreits, weil sie im Falle des Unterliegens (zumindest in Deutschland) die eigenen und gegnerischen Anwaltskosten sowie die Gerichtsgebühren und eventuelle Kosten für die Beweisaufnahme zu tragen haben (§ 91 Abs. 1 ZPO). Oftmals bereiten zudem die Informationsbeschaffung und Beweisführung Schwierigkeiten, weshalb viele potenzielle Mandanten und Mandantinnen vom Gang zum Anwalt absehen.[2] In diesem Beitrag möchten wir anhand eines Vergleichs mit den USA darlegen, welche Anreize Betroffene dazu animieren können, eine Rechtsverfolgung in Betracht zu ziehen.
Die Geschäftsmodelle von Legal Tech-Inkassodienstleistern setzen bei den oben genannten Problemen an: Sie versuchen das rationale Desinteresse der Rechtsuchenden zu überwinden, indem sie im Internet eine Eingabemaske für standardisierbare Massenfälle zur Verfügung stellen. Wenn die vollständige oder teilweise automatisierte Prüfung der Forderung hohe Erfolgsaussichten verspricht, bietet das Legal Tech-Inkassounternehmen dem Nutzer oder der Nutzerin einen Rechtsverfolgungsvertrag an. In diesem verpflichtet sich der Inkassodienstleister zu versuchen, den Anspruch zunächst außergerichtlich und sodann gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen. Zudem stellt er den Rechtsuchenden vom Kostenrisiko des Rechtsstreits frei. Der Vertrag enthält also ein Element klassischen Inkassos und ein wirtschaftliches[3] Element der Prozessfinanzierung. Im Gegenzug vereinbaren die Parteien eine Erfolgsprovision von durchschnittlich circa 30 Prozent der realisierten Forderung.[4]
Zwei Marktrollen in Deutschland
Wirtschaftlich fremde Forderungen dürfen in Deutschland zum Schutz des Gläubigers und Schuldners vor unqualifizierten Inkassodienstleistungen („Moskau-Inkasso“) nur registrierte Inkassodienstleister und Rechtsanwälte eigenständig einziehen.[5] Rechtsschutzversicherungen untersagt § 4 Satz 1 RDG die Erbringung von Rechtsdienstleistungen und damit auch Inkassodienstleistungen, weil ihr wirtschaftliches Interesse, Rechtsverfolgungskosten zu vermeiden, die ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistung strukturell gefährdet. Mithin besteht hier ein Zielkonflikt, der eine Aufspaltung der Leistungen auf verschiedene Anbieter erfordert.[6]
Im streitigen Verfahren müssen sich Inkassodienstleister durch einen zugelassenen Rechtsanwalt bzw. eine Rechtsanwältin vertreten lassen, weil ihnen die Forderung lediglich zum Zweck der Einziehung abgetreten wurde und sie daher bei wirtschaftlicher Betrachtung nach wie vor dem Auftraggeber zusteht (§ 79 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ZPO). Inkassounternehmen ist die Übernahme der Kosten des Rechtsstreits gestattet.[7] Ihre Kostenrisiken können sie im Innenverhältnis grundsätzlich[8] durch einen Prozessfinanzierer absichern. Hingegen ist Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen die Übernahme der Kosten des streitigen Verfahrens untersagt (§ 49b Abs. 2 Satz 2 BRAO).
Zusammengefasst dürfen somit Inkassodienstleister, Prozessfinanzierer und Rechtsschutzversicherungen den Prozess finanzieren, aber das streitige Verfahren nicht selbst führen, wohingegen der Anwaltschaft die Führung des Rechtsstreits, aber nicht dessen Finanzierung gestattet ist.
Umfassende Rechtsverfolgungsverträge können Rechtsuchenden deshalb nur über eine Kooperation zwischen Inkassodienstleistern und Rechtsanwälten bzw. Rechtsanwältinnen angeboten werden.
Die Rechtsanwaltschaft unterliegt vor diesem Hintergrund keinen restriktiveren Berufsausübungsschranken als Inkassounternehmen und anderen Finanzierern.[9] Es handelt sich lediglich um zwei unterschiedliche Leistungen, die niemand in Personalunion erbringen darf.[10] Richtet man den Blick auf die Finanzierer, so dürfen sie nicht vor Gericht auftreten, weil sie keine Volljuristen sein müssen und ihre Fachkunde daher lediglich für eine sachgerechte Instruktion des Rechtsanwalts oder der Rechtsanwältin, nicht aber für eine eigenständige Führung des Prozesses genügt.[11] Bei Betrachtung der anderen Marktrolle, derjenigen des Prozessvertreters, dient das Verbot gegenüber den Anwältinnen und Anwälten, den Rechtsstreit zu finanzieren, der Gewährleistung von deren Unabhängigkeit.[12]
Hinter den fortdauernden Überlegungen, das anwaltliche Berufsrecht zu liberalisieren, verbirgt sich die übergeordnete rechtspolitische Frage, ob die Anwaltschaft ein freier Beruf bleiben (s. § 2 Abs. 1 BRAO) oder künftig (wie Inkassounternehmer) ein Gewerbe werden möchte. Wenn Anwälte und Anwältinnen Prozesse finanzieren sollten, wird sich in Anbetracht des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) die Gewerbesteuerfreiheit der Anwaltschaft als Privileg gegenüber Inkassounternehmern nicht länger rechtfertigen lassen.[13]
Möglichkeit der Leistung aus einer Hand in den USA
Im Hinblick auf den Umfang des Kostenrisikos ist zunächst anzumerken, dass die Parteien in den USA ihre eigenen Anwaltskosten unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits zu tragen haben.[14] Zudem besteht in den Vereinigten Staaten – wie auch in Deutschland (§ 49b Abs. 2 Satz 1 BRAO, § 4a RVG) – die Möglichkeit, ein Erfolgshonorar zu vereinbaren, also eine Absprache zu treffen, die vorsieht, dass der Mandant seinem Rechtsanwalt oder seiner Rechtsanwältin für den Fall des Misserfolgs keine Vergütung zu zahlen hat.[15] Erfolgshonorare können in den USA als isolierter Anreiz das rationale Desinteresse an der Rechtsverfolgung eher überwinden als in Deutschland, weil das gesetzliche Kostenrisiko auf die eigenen Rechtsanwaltskosten und Gerichtskosten beschränkt ist und der Kläger oder die Klägerin folglich nur noch das Risiko der Gerichtsgebühren zu tragen hat.
Kommerzielle Drittfinanzierungen der Gerichtsgebühren waren in den USA (wie in den meisten Common Law Staaten) zunächst untersagt.[16] Heute sind sie weithin zulässig und insgesamt verbreiteter als im Rechtskreis des Civil Law.[17] Inkassounternehmer, Rechtsschutzversicherungen und Prozessfinanzierer bieten verschiedene Vertragsgestaltungsmöglichkeiten an.[18] Anders als in Deutschland dürfen auch Anwälte und Anwältinnen die Rolle des Prozessfinanzierers ausfüllen,[19] wobei die konkreten Bedingungen von Bundesstaat zu Bundesstaat divergieren.
Etwa können Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen in Washington D.C. sämtliche Gerichtskosten unabhängig vom Ausgang des Verfahrens und sogar darüber hinausgehende Kosten, wie die Finanzierung der Beschaffung von Beweismitteln, Ermittlung eines Sachverhalts oder medizinischer Untersuchungen für ihre Mandantschaft übernehmen, um dieser die Einleitung oder Aufrechterhaltung des Rechtsstreits zu ermöglichen.[20]
Andere Bundesstaaten haben die entsprechende Bestimmung aus den Model Rules of Professional Conduct der American Bar Association[21] übernommen, welche Anwälten und Anwältinnen gestattet, die Kosten des Rechtsstreits vorzuschießen und deren Rückzahlung vom Ausgang des Verfahrens abhängig zu machen. Zudem dürfen sie die Kosten ganz übernehmen, wenn der Mandant oder die Mandantin mittellos ist. Bei Pro-bono-Fällen ist ihnen unter Beachtung bestimmter Bedingungen auch die Übernahme von über den Rechtsstreit hinausgehenden Kosten für Verpflegung, Miete, Anreise und Medikamente erlaubt.
Die gerichtliche Prozessvertretung ist in den USA – wie in Deutschland – nur zugelassenen Rechtsanwälten, nicht aber Inkassodienstleistern, Rechtsschutzversicherungen und Prozessfinanzierern gestattet.[22] Das Anbieten einer Prozessfinanzierung und Prozessvertretung aus einer Hand ist daher (nur) der Anwaltschaft möglich.
Der Vergleich im Überblick:
USA | Deutschland |
Parteien zahlen Anwaltskosten in den meisten Bundesstaaten selber; Kläger oder Klägerin trägt das Risiko der Gerichtsgebühren | Wer im Rechtsstreit unterliegt, trägt die eigenen sowie die gegnerischen Anwaltskosten und die Gerichtsgebühren |
Kommerzielle Drittfinanzierung der Kosten des Rechtsstreits möglich; auch Anwaltschaft darf unter bestimmten Bedingungen Rolle des Prozessfinanzierers ausfüllen | Kommerzielle Drittfinanzierung der Kosten des Rechtsstreits (grds.) möglich; Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen ist die Übernahme der Kosten des streitigen Verfahrens untersagt |
Prozessfinanzierung und Prozessvertretung aus einer Hand (Anwaltschaft) möglich | Keine Personalunion möglich |