Die anwaltliche Vertretung einer Vielzahl von Klägern in Massenverfahren ist ohne den Einsatz von Legal Tech-Anwendungen praktisch nicht mehr durchführbar und führt natürlich auch zu Kostenvorteilen und Effizienzsteigerungen. Praxisrelevant ist dies etwa bei massenhaften Verbraucherschutzklagen, den sog. „Dieselklagen“ gegen namhafte Automobilhersteller oder auch in Anlegerschutzverfahren, die von auf Kapitalmarktrecht tätigen Anwältinnen und Anwälten unter Einsatz von Legal Tech-Werkzeugen in großer Zahl standardisiert bearbeitet werden.
Die Nutzung von Software birgt aber auch Haftungsrisiken, wenn die Anforderungen, die die Zivilprozessordnung (ZPO) an anwaltliche Schriftsätze stellt, nicht eingehalten werden. Wie viel Standardisierung erlaubt die ZPO eigentlich und wo lauern Gefahren für Legal Tech-Klagen?
Der Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten Anforderungen der ZPO, die bei der Standardisierung von anwaltlichen Schriftsätzen beachtet werden sollten. Er richtet sich nicht nur an Anwältinnen und Anwälte; auch für Anbieter entsprechender Anwaltssoftware dürfte der nachfolgende Überblick interessant sein.
1. Allgemeine Anforderungen der ZPO
Die ZPO stellt Anforderungen an Form und Inhalt von Schriftsätzen, unabhängig davon, ob sie individuell für einen Einzelfall oder maschinell für eine Vielzahl von Fällen erstellt werden. Nach § 253 II Nr. 2 ZPO muss eine Klageschrift, neben einem bestimmten Antrag, die Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs enthalten. Charakteristisch bei Massenklagen ist ein gewisser Grad an Standardisierung und Verallgemeinerung in gleichgelagerten Fällen, die sich mit Legal Tech-Anwendungen gut bearbeiten lassen. Das steht allerdings in einem deutlichen Spannungsverhältnis mit dem soeben erwähnten Bestimmtheitserfordernis in § 253 II Nr. 2 ZPO und dem Gebot, Sachverhalt und Grund der Ansprüche im Einzelfall zu konkretisieren. Typisch für Massenklagen ist, dass die Sachverhalte im Wesentlichen gleich gelagert sind, sich aber naturgemäß im jeweiligen Einzelfall unterscheiden. Wird gegen das Bestimmtheitserfordernis nach § 253 II Nr. 2 ZPO verstoßen, ist die Klage unzulässig.
Von diesem Bestimmtheitserfordernis ist die Schlüssigkeit und Substantiierung des vorgetragenen Lebenssachverhalts zu unterscheiden. Das ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit der Klage. Eine Klage ist schlüssig, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz (Anspruchsgrundlage) geeignet sind, die geltend gemachte Rechtsfolge (Anspruch) herbeizuführen. Dabei muss der Vortrag soweit substantiiert sein, dass das Gericht (auf der Basis des Vortrags) beurteilen kann, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die verlangte Rechtsfolge erfüllt sind. Weitere Einzelheiten, die etwa den Zeitpunkt und den Vorgang bestimmter Ereignisse betreffen, gehören nicht dazu, es sei denn, dies ist für die begehrte Rechtsfolge erforderlich. Die Verwendung von Textbausteinen und eines standardisierten, allgemeinen Vortrags ist grundsätzlich erlaubt. Dies gilt allerdings nur, soweit die Anforderungen an die Schlüssigkeit eingehalten werden.
Es darf auch auf Parallelprozesse oder Anlagen Bezug genommen werden, soweit der Bestimmtheitsgrundsatz beachtet wird. Wer hier aber zu nachlässig ist, riskiert die Begründetheit einer Klage. Nicht ausreichend sind etwa Tatsachenbehauptungen, die eine Partei in lediglich formelhafter und pauschaler Weise aufstellt, ohne sie zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt in Beziehung zu setzen. Auch die pauschale Bezugnahme auf die Akten eines anderen Verfahrens genügt grundsätzlich nicht. Diese müssen der Klageschrift beigefügt sein oder dem Gericht bereits vorliegen.
Berufungsbegründung
Ähnliche Grundsätze gelten auch im Fall einer Berufungsbegründung. Nach § 520 III Nr. 2 ZPO muss sie die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Dazu gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt. Die Darstellung muss dabei auf den Streitfall zugeschnitten sein. Dabei reicht es nicht aus, die Auffassung des Erstgerichts mit formularmäßigen Sätzen oder allgemeinen Redewendungen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen erster Instanz zu verweisen. Schon 2008, als Legal Tech noch völlig unbekannt war, hat der BGH (Beschl. v. 27.05.2008 – XI ZB 41/06 – Textbausteine ohne Bezug zum Streitstoff) festgestellt, dass eine Berufungsbegründungsschrift, die sich weitgehend aus anderen Rechtsstreitigkeiten betreffenden Textbausteinen und Schriftsätzen zusammensetzt, auf das angegriffene erstinstanzliche Urteil aber nur sporadisch eingeht, den Bestimmtheitsanforderungen nach § 520 III ZPO nicht genügt.
2. Der Fall des OLG Naumburg im Dieselskandal
Diese allgemeinen Grundsätze wurden vom OLG Naumburg vom 12.09.2019 – 1 U 168/18 – auch in den sog. Dieselskandalfällen angewandt. In dem Fall hatte sich der Berufungskläger nicht näher mit dem angefochtenen Urteil auseinandergesetzt, sondern auf eine andere Entscheidung Bezug genommen. Die Berufungsbegründung war allgemein unter Verwendung von Textbausteinen erstellt worden. Es wurden lediglich abstrakt die Anspruchsvoraussetzungen dargestellt und der erstinstanzliche Vortrag wiederholt. Die Berufungsbegründung wurde erkennbar aus einem Schriftsatz entwickelt, der sich gegen ein anderes Gericht richtete, sodass die Berufung vom OLG Naumburg als unzulässig verworfen wurde.
3. Fazit: Massenverfahren erfordern ebenso strenge Einhaltung der ZPO
Der Fall des OLG Naumburg hat gezeigt, dass die Rechtsprechung auch bei Legal Tech-Klagen wohl kein Auge zudrücken, sondern voraussichtlich dieselben strengen Maßstäbe nach der ZPO anwenden wird. Standardisierte Massenklagen unter Einsatz von Legal Tech sind zivilprozessual zulässig, wenn die klassischen ZPO-Grundsätze aus der „analogen Welt“ eingehalten werden. Dies gilt es im Rahmen von anwaltlichen Legal Tech-Strategien zu beachten, sei es in Kooperation mit Legal Tech-Unternehmen oder in Eigenregie.
Nach einem kürzlich veröffentlichten Thesenpapier einer Arbeitsgruppe, bestehend aus hochkarätigen Richtern, soll die ZPO weiter an das digitale Zeitalter angepasst werden. Unter anderem wird vorgeschlagen, den Parteivortrag zu strukturieren und das Verfahren zu standardisieren. Zusammen mit dem Ausbau der elektronischen Einreichung von Schriftsätzen bei Gericht ist dies ein wichtiger Schritt in Richtung Digitalisierung und auch eine Erleichterung für die künftige elektronische Bearbeitung und Einreichung von Schriftstücken unter Einsatz von Legal Tech.
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Dr. Frank Remmertz ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz und IT-Recht in München. Er ist Rechtsexperte im Bereich der Rechtsdienstleistungen und u. a. Herausgeber des 2020 im Beck-Verlag erschienenen Werks „Legal Tech-Strategien für Rechtsanwälte“.
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