Von Benjamin Peters
Der Arbeitsalltag in Kanzleien ist heute immer noch häufig durch die massenhafte Auswertung und Sachverhaltserfassung von Schriftstücken, Formularen und kaufmännischen Belegen geprägt. Dabei gilt es, diese möglichst sorgfältig zu erfassen, denn je substantiierter der juristische Vortrag ausfällt, umso wahrscheinlicher ist die Erfolgsaussicht der Klage vor Gericht.
Studien zufolge können 22 Prozent der Tätigkeiten von Anwältinnen und Anwälten und 35 Prozent der Aufgaben von Rechtshelfern durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) automatisiert werden[1]. Auch die Kanzleien äußern einen klaren Bedarf an Automatisierung mit dem Ziel, effizienter und kostengünstiger zu arbeiten. Dabei kann der Einsatz von KI einen Wettbewerbsvorteil für die einsetzende Kanzlei bieten, indem die Qualität der Sachverhaltserfassung verbessert, die Durchlaufzeiten verkürzt und der Aufwand reduziert werden. So können sich Anwältinnen und Anwälte auf ihre juristische Arbeit bzw. die Beratung der Mandantschaft konzentrieren.
Doch wie sieht der Einsatz der heutigen KI-Technologien in Kanzleien aus und worin besteht der Mehrwert konkret?
Einsatz von KI im Kanzleialltag
Mit Künstlicher Intelligenz sind durch den Hype der letzten Jahre vielfach sowohl (zu) hohe Erwartungshaltungen als auch Befürchtungen und Misstrauen verbunden. Zudem sind viele Anbieter auf diesen Zug aufgesprungen und verpacken explizit programmierte Mustererkennung (Regeln, Heuristiken) als „KI“. Diese Ansätze lieferten aufgrund des begrenzt vorliegenden (programmierten) Wissens häufig keine optimalen Ergebnisse und sind aufwändig in der Einrichtung, Anwendung und Pflege der Software.
Der eigentliche Paradigmenwechsel besteht aber gerade darin, dass Maschinen solche Muster selbstständig („ungestützt“) oder anhand von Trainingsbeispielen menschlicher Spezialisten („gestützt“) erkennen können. Im Kanzleialltag fokussiert sich der Einsatz intelligenter Systeme auf das Dokumentenmanagement – rund 17 % der Juristinnen und Juristen nutzen bereits Software zur automatischen Dokumentenanalyse und 35 % planen künftig in eine solche Software zu investieren[2].
Natürlich ist eine vollständige Automatisierung von Prozessen die Königsdisziplin. Ob, beziehungsweise wie schnell dies möglich ist, hängt von der Komplexität des jeweiligen Prozesses ab. Praxistauglich und empfehlenswert ist hierbei häufig die gestützte Vorgehensweise, welche auf der Interaktion zwischen Spezialisten und KI (sog. „Human in the Loop“) basiert. Hierbei werden die im trainierten KI-Modell erkannten Ergebnisse bzw. Vorhersagen mit geringer Konfidenz zur Prüfung durch den Spezialisten gekennzeichnet. Dieser hat dann die Möglichkeit, nachzuschärfen und die so erzeugten Korrekturergebnisse kontinuierlich in den Trainingsprozess einfließen zu lassen. Häufig können so schon mit wenigen Trainingsdaten sehr gute Ergebnisse erreicht werden, die so im Laufe der Zeit sukzessive verbessert werden können.
Anwendungsfälle für Künstliche Intelligenz im Kanzleialltag
Die konkreten Anwendungsfälle im Kanzleialltag sind vielfältig: Es lassen sich beispielsweise sehr große Datenbestände ohne menschliches Zutun anhand optischer Merkmale gruppieren (Formulare, Rechnungen, AGB etc.). Darüber hinaus kann die darauf aufbauende Klassifizierung und sachlogische Trennung von Dokumenttypen (z. B. Klagen, Gutachten, Stellungnahmen etc.) im anwaltlichen Kontext helfen, die täglich anfallende Flut an Unterlagen zielgerichtet in der weiteren Verarbeitung zu steuern.
Ferner kann hiermit auch die Extraktion von Informationen aus Dokumenten (wie kaufmännische Angaben, Aktenzeichen, Fristen, Streitwerte, Namen und Anschriften sowie Schadensbeträge aus Gutachten etc.) vorgenommen werden, um damit in Massenverfahren eine effizientere Abarbeitung einzelner Mandate zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Nicht zuletzt bieten semantische Verfahren die Möglichkeit, Vertragstexte oder sonstige Dokumente zu analysieren. Dieses könnte beispielsweise in der Begutachtung von regulatorischen Anforderungen (Verstöße gegen die EU-DSGVO) eine massive Erleichterung der fachlichen Arbeit mit sich bringen.
Liegen z. B. in Massenverfahren ausreichend Fälle vor, können auf dieser Basis zudem weitergehende Prognosen z. B. von Risiken und Erfolgschancen („Predictive Analytics“) oder fachlich wertvolle Hinweise hinsichtlich Relevanz und Auswirkungen bestimmter Einflussfaktoren generiert werden.
Mehrwerte durch den Einsatz von KI im Kanzleialltag
Durch den Einsatz selbstlernender Systeme ergeben sich folgende Mehrwerte für Kanzleien und die jeweiligen Nutzer:
- Präzision: Ein Maximum korrekter Bezüge sowie vielfältige Validierungen und überprüfbare Konfidenzen übersteigen die Qualität menschlicher Bearbeitung deutlich.
- Entlastung: Bearbeitungs- und Prüfungsaufwände für Fachleute (z. B. Rechtsanwältinnen/Rechtsanwälte und ökonomische GutachterInnen) reduzieren sich deutlich.
- Schnelligkeit: Auch sehr große und komplexe Datenbestände können dank lernfähiger Verfahren – ohne Programmieraufwand – adaptiv verarbeitet werden.
- Flexibilität: Durch optische Strukturierungsverfahren (visuelles Clustering) können im Vorfeld Layouts automatisch gruppiert und für die weitere Verarbeitung genutzt werden.
- Skalierbarkeit: KI-Systeme können bedarfsgerecht und stetig Millionen von Informationen aus hunderttausenden von Seiten extrahieren.
- Nachvollziehbarkeit: Alle Extraktionsergebnisse werden systematisch mit den Angaben in dem Ursprungsdokument verknüpft.
- Erfolg: Hohe Qualität und Nachvollziehbarkeit tragen maßgeblich zur Substantiierung der Klageschrift, Gerichtsfestigkeit und Durchsetzbarkeit bei.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der nächsten Stufe des KI-Einsatzes im Kanzleialltag nicht nur die Digitalisierung, sondern auch die Automatisierung des Dokumentenwesens deutlich effizienter und zielgerichteter erfolgen kann. Somit entfallen einerseits aufwändige manuelle Tätigkeiten hochqualifizierter Fachkräfte und andererseits entstehen höherwertige Informationen durch Nutzung von Kontextinformationen aus großen Datenbeständen. Auf dieser Basis lassen sich sehr komplexe, aber auch viele ähnlich gelagerte Verfahren schneller, kostengünstiger und qualitativ hochwertiger abwickeln.
Konkrete nächste Schritte für den Einsatz von KI
Für viele Verarbeitungsschritte existieren bereits fertige KI-Modelle und die benötigten Werkzeuge, die direkt eingesetzt werden können. Spezielle oder neue Anforderungen sollten iterativ umgesetzt werden, um zügige Ergebnisse mit kontinuierlicher Verbesserung zu verbinden. Im Rahmen eines Quick-Checks können die Eignung der vorhandenen Datengrundlagen, die genaue Aufgabenstellung sowie Lösungsansätze zügig konkretisiert werden. Auf Basis dieses Konzeptes erfolgt dann unter Verwendung konkreter (Beispiel-)Dokumente und erster zugeschnittener Modelle die erste Verifikation, wie gut die jeweilige Problemstellung maschinell lösbar ist (Proof of Concept). Wenn dieses erfolgreich verläuft, kann im Rahmen eines Piloten ein erstes, aber echte Mehrwerte darstellendes Produkt (MVP) realisiert und in die Anwendung des relevanten Daten-/Dokumentenbestandes überführt werden. Im anschließenden, kontinuierlichen Verbesserungsprozess werden die Anwendungsfälle erweitert, die Leistung der KI optimiert und bei Bedarf auch KI-Wissen in Ihre Organisation verlagert.
[1] https://heise.de/-3919054 (Stand: 18.08.2020).
[2] https://legal-tech.de/Broschueren/FFI_Legal_Tech-Umfrage_2020.pdf (Stand:18.08.2020).
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Benjamin Peters beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Digitalisierung, Schwerpunkt Dokumentenmanagement, IT-Strategie und IT-Service-Management im Finanzwesen. Aktuell leitet er den Kartellrechtsbereich bei der inserve GmbH, einem auf Dokumentenanalyse spezialisierten Technologieunternehmen. Im Bereich des Kanzleimanagements gilt der Fokus der Bearbeitung großer Fallvolumina (z. B. im Bereich Kartellschadensersatz) indem einzelne Prozessschritte automatisiert werden.