Wer sich durch aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Künstliche Intelligenz im Notariat liest, merkt schnell: Es wird viel über „Potentiale“, „Gamechanger“ und „digitale Zukunft“ geschrieben. Oft bleibt es dabei. Viel Theorie, wenig Praxis. Viele Ankündigungen, wenige Antworten auf die drängende Frage: Was kann KI (heute) ganz konkret im Notariat leisten – und wie kann sie meinen Arbeitsalltag entlasten?
Dieser Beitrag richtet sich an Notar:innen und Mitarbeitende, die wissen wollen, wo KI einen echten Unterschied machen kann. Die folgenden Beispiele stammen aus echter Praxis, aus Workshops, Prozessanalysen und direkter Erfahrung in Kanzleien und aus Mentorings von Legal-Tech-Start-up. Manche Ideen existieren bereits, andere entstehen gerade. Wieder andere sind mögliche Anwendungsfälle, die bald Realität werden könnten. Die Übergänge sind bewusst fließend.
Prolog: Vom Potential zur konkreten Wirkung
Die vielbeschworene Digitalisierung im Notariat bedeutet für viele derzeit vor allem eines: Mehrbelastung. Statt spürbarer Erleichterung im Alltag erleben viele Kanzleien zunächst einen Mehraufwand von bis zu 30 Prozent. Die Anforderungen an ein „elektronisches Notariat“ sind komplex und häufig technisch nicht ausreichend untersetzt: Die elektronische Akte, die elektronische Signatur, digitale Registeranbindungen oder die Anforderungen des XNP klingen nach Fortschritt – erzeugen in der täglichen Praxis aber oft neue Medienbrüche und verkomplizierte Abläufe. Viele Softwarelösungen sind nicht modular gedacht, sondern historisch gewachsen. Sie bringen neue Funktionen, ohne alte zu hinterfragen.
Was fehlt, ist ein digitaler Gesamtprozess – durchgängig, integriert und auf den Kanzleialltag abgestimmt. Stattdessen wird Digitalisierung derzeit oft wie ein aufgesetztes Add-on erlebt: Es muss mehr geklickt, mehr gepflegt, mehr kontrolliert werden.
Hinzu kommen strukturelle Hürden: fehlende Schnittstellen zwischen Systemen, proprietäre Datenformate, begrenzte Automatisierungsmöglichkeiten, hoher Schulungsaufwand – insbesondere bei neuen Mitarbeitenden – und Software, die nicht mitgedacht, sondern mitgezogen werden muss. Das alles passiert in einem Umfeld mit Personalmangel, steigendem Zeitdruck und wachsender Komplexität der Fälle.
Doch Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein. Es braucht Lösungen, die nicht nur die Mandantenerfahrung verbessern, sondern auch eine echte smarte Kanzleierfahrung schaffen – für die Menschen, die täglich mit den Systemen arbeiten. Denn: Es sind die Notar:innen und ihre Teams, die täglich mit den Herausforderungen umgehen – nicht die Mandantschaft.
Zudem braucht es dringend eine neue Perspektive: Während vielerorts über ein „Notariat 2030“ gesprochen wird, wirken solche Pläne wie Strategien aus der Ming-Dynastie. Schauen wir ehrlich auf die letzten fünf Jahre zurück: Pandemie, politische und wirtschaftliche Umbrüche, technische Quantensprünge. Wer heute fünf Jahre in die Zukunft plant, muss vorher die Gegenwart verstanden haben. Wir brauchen keine Zukunftsvisionen in PowerPoint, sondern ehrliche Diskussionen über das Notariat von heute und morgen früh.
Anwendungsfälle: KI im echten Notariatsalltag
Stellen Sie sich vor, Sie verwenden künftig eine datenschutzkonforme und moderne Cloud-Software – nennen wir sie „KIKI“. Diese muss nicht auf jedem Arbeitsplatz installiert werden. Keine teuren IT-Kosten. Keine raumgreifenden Server. Mitarbeitende arbeiten ortsunabhängig – sogar aus dem Ausland. Updates? Automatisch und ohne IT-Koordination. Datenschutz? Selbstverständlich: Rechenzentren in Deutschland, ISO 27001, BSI C5, IT-Grundschutz.
Cloud-nativ bedeutet dabei nicht nur „in der Cloud“, sondern für die Cloud gebaut – skalierbar, resilient und flexibel. Erste Anbieter im Notariatsbereich entwickeln genau das. Derzeit sind viele Systeme „cloud-ready“, aber noch nicht vollständig cloud-nativ. Der Unterschied? Cloud-ready kann in der Cloud betrieben werden. Cloud-native lebt dort.
Ihr Alltag mit KIKI? Vielleicht sieht er bald so aus: Sie starten den PC, öffnen eine zentrale Anwendung. Ihr Dashboard zeigt offene Klientenanfragen, interne To-dos, Prüfvermerke, laufende Vorgänge. Die Geschäftsführerin der Schöne Verwaltungs GmbH ruft an – ein Fenster öffnet sich automatisch, zeigt die relevanten Akten. Während Sie sprechen, erscheinen intelligente Prompt-Vorschläge: „Akte zusammenfassen?“ – ein Klick, ein kompaktes Summary im „Twitter-Stil“.
Ein anderer Fall: Es werden Dokumente eingereicht. Die KI erkennt automatisch, dass es sich um einen Kaufvertrag über ein Grundstück handelt. Sie bietet an, die Akte anzulegen und sofort die Geldwäscheprüfung auszuführen – ebenfalls per Klick.
Ein typischer Flaschenhals: Wissen in den Köpfen Einzelner. „Wenn Frau Bayer geht, sind wir aufgeschmissen.“ – Das muss nicht sein. Die KI lernt mit, erkennt Muster, sichert Wissen. Der Entwurf wird automatisiert erstellt. Das Ergebnis: internes Wissensmanagement statt Abhängigkeit von Einzelpersonen. Und: Vielleicht werden Sie künftig nicht mehr sagen „Bitte schicken Sie uns alles per Mail“, sondern einfach das Gespräch fortführen, während KIKI zuhört, versteht und parallel Dokumente vorbereitet.
Konkrete Anwendungsfälle entlang der notariellen Praxis
Es sind bereits eine Vielzahl konkreter Einsatzfelder für KI im Notariat bekannt. Die meisten werden gerade entwickelt, andere entstehen in Pilotprojekten. Diese Ideen lassen sich sinnvoll am „Lebenszyklus einer Urkunde“ strukturieren. Für den Alltag in Kanzleien ergeben sich daraus bereits echte Mehrwerte:
1. Datenerfassung / Aktenanlage / Beteiligtenangaben prüfen und konsolidieren
Dynamische Datenerfassung ist bereits heute möglich. Seriöse Anbieter haben bereits zu fast allen gängigen Notariatssoftware (NSW) eine Schnittstelle. Die traditionelle NSW erkennt zwar auch Dubletten, aber wenn der Name falsch geschrieben ist, kommen die meisten NSW an ihre Grenzen. Die KI erkennt Dubletten trotz unterschiedlicher Schreibweisen („Beyer“ vs. „Beier“), verknüpft Stammdaten aus früheren Akten, schlägt passende Beteiligte aus dem System vor.
2. Selbstanfragen entlasten das Team
Strukturierte Erstabfrage von Beteiligtendaten, Chatbots, Selbsterfassungsportale für Beteiligte und andere KI-gestützte Dialogsysteme erfassen alle relevanten Erstangaben der Beteiligten.
3. Konsistenzprüfung von Entwürfen / Aufgaben- und Fristensteuerung mit Kontext
Anhand der übermittelten Dokumente wird das zugehörige Formular oder Referat automatisch gefüllt. Aktuelle Registerauszüge werden ebenfalls ausgewertet und die wichtigen Abschnitte, die für die Vertragsgestaltung notwendig sind, extrahiert und eingefügt. Daten aus der Mandantenkommunikation bzw. Telefonnotizen werden in Kontext gesetzt. Ist bereits ein Beurkundungstermin angesetzt, erkennt KIKI Fristen, erzeugt Aufgaben mit Kontext. Im Vertragsentwurf selbst erkennt KIKI logische Brüche oder vergessene Klauseln.
4. Smarte Vorbereitung auf Termine / Nach Beurkundung / Automatisierte Fristenerkennung
Die KI erstellt ein Kurzbriefing aus allen vorliegenden Informationen: Wer kommt? Was war zuletzt relevant? Welche offenen Punkte gibt es? Liegen alle relevanten Daten vor, wie z. B. die Umsatzsteuer-ID? Der Text „bitte senden Sie uns den Entwurf bis spätestens 02.07.“ löst heute oft keine automatische Erinnerung aus. KI erkennt solche Fristen, weist sie der passenden Akte zu und informiert das Team proaktiv.
5. Internes Wissen nutzbar machen
KI erschließt Wissen aus früheren Vorgängen. Rückfragen wie „Wie hatten wir das damals gelöst?“ werden durch intelligente Suchfunktionen schnell beantwortet. Die KI durchforstet das System, schlägt passende Entwürfe, Beteiligtenkonstellationen oder Notizen vor. Das „lernende Notariat“ bedeutet dann in der Praxis: Unabhängigkeit von Einzelwissen, schnellere Einarbeitung, systematischer Wissensaufbau.
Was es bereits gibt – ein Auszug
Einzelne Lösungen sind bereits erfolgreich im Einsatz:
- Ein KI-Grundbuchassistent, der automatisch Grundbuchdaten extrahiert
- Ein KI-Nachlassverzeichnis
- Erste KI-gestützte Prüfroutinen zur Geldwäscheprävention
- Verschiedene LLM kommen für Assistenztätigkeiten zum Einsatz: Prüfe dies, schreibe um, schreibe mir das Grundschuldbestellungsformular ab.
Doch meist bleiben es Insellösungen. Eine tiefgreifende Integration in die Prozesse – entlang des Lebenszyklus einer Urkunde fehlt noch. Es gibt unzählige praxisnahe Use Cases für die nahe Zukunft. Hier wünscht man sich mehr Mut seitens des Gesetzgebers und der Interessenvertretungen (Bundesnotarkammer und Ländernotarkammer und -kassen).
Fazit: Zeit zu handeln, nicht zu warten
KI ist längst ein Thema der Gegenwart geworden – das ist auch gut so. Wer heute noch auf das „Notariat 2030“ wartet, verpasst das Notariat von morgen früh. Neue Lösungen dürfen kein Selbstzweck sein, wie so viele der letzten 40 Jahre. Es geht nicht um mehr Technik, sondern um mehr Erlebnis – für Notar:innen und ihre Teams, die wirklich entlastet werden wollen.
Bild: Adobe Stock/©The Pixel Store
Ramiza Schöne ist Inhaberin von notartec und Notarberaterin mit Fokus auf digitale Prozessbegleitung, Automatisierung und menschenzentrierten Wandel im Notariat. Auf LinkedIn und im Podcast Digital im Notariat - Schöne neue Welt spricht sie mit Gästen aus der Rechtsbranche über moderne Kanzleientwicklung, Kommunikation und echte Veränderung. Als Sparringspartnerin für Legal-Tech-Startups bringt sie ihr tiefes Verständnis der notariellen Praxis ein und berät bei Positionierung und Marketingstrategien.









