Von Dr. Christina-Maria Leeb & Markus Hartung
Während Anwaltskanzleien immer digitaler werden, hält die Rechtsprechung an analogen Arbeitsweisen fest. So hat der BGH unlängst entschieden (Beschluss vom 28. Februar 2019 – III ZB 96/18), dass reine Fristenkontrolle per Kanzleisoftware nicht der berufsrechtlichen Sorgfaltspflicht eines Anwalts entspreche. Sie berge stattdessen weitaus mehr Fehlerquellen als die analoge Arbeitsweise. Ein Kontrollausdruck der jeweiligen Eingaben sei daher notwendig. Entspricht der Beschluss noch den heutigen Arbeitsweisen oder wächst der Widerspruch zwischen Gesetzeslage und Kanzleialltag? Darüber haben wir mit Legal Tech-Experte Markus Hartung und Dr. Christina-Maria Leeb, die kürzlich im Bereich Legal Tech promovierte, gesprochen.
Frau Dr. Leeb, Herr Hartung, was halten Sie persönlich vom Beschluss des BGH?
Markus Hartung (MH): Ich sehe hier zwei Seiten: Die Entscheidung ist einerseits gut, weil sie die Belange von Mandanten an sorgfältiger und ordentlicher Fristenbehandlung in den Vordergrund stellt. Andererseits ist sie nicht so gut, weil sie kategorisch etwas verlangt, was nur in diesem Fall gerechtfertigt war – Stichwort Medienbruch. Etwas mehr fallbezogene Zurückhaltung wäre schön gewesen.
Dr. Christina-Maria Leeb (CML): Dem schließe ich mich an. Ohne Zweifel ist ein sorgfältiges Fristenmanagement essentieller Bestandteil einer wohlverstandenen Aufgabenerfüllung der Anwältin bzw. des Anwalts. Dennoch lässt sich u. a. darüber diskutieren, ob der seit 1995 vom BGH unveränderte Standpunkt, eine digitale Korrektur bringe per se eine schlechtere und damit nicht hinnehmbare Überprüfbarkeit gegenüber einem analogen Ausdruck, auch 2019 noch unverändert Gültigkeit besitzt.
Ist der BGH-Beschluss zielführend für den Weg in eine moderne digitalisierte Rechtsbranche?
MH: Nein, sicher nicht.
CML: Nein, das Gegenteil ist der Fall. Die Entscheidung hemmt die kanzleiinternen Digitalisierungsprozesse. Zielführend wäre es gewesen, wenn der BGH im Rahmen eines Obiter Dictum entsprechend abstrahierte, softwareseitige (Gestaltungs-)Anforderungen formuliert hätte, die die Kontrolle eines Papierausdrucks obsolet werden lassen. Immerhin eine „Öffnungsklausel“ in Richtung vollständig digitale Arbeitsweise hätte dieser zumindest nicht weiterhin die Türen gänzlich verschlossen gehalten.
Wie sollte Anwaltssoftware strukturiert sein, um der aktuellen Rechtslage zur Fristenkontrolle zu genügen?
MH: Das lässt sich in der Kürze dieses Interviews nicht sagen, aber: Software muss einfach besser werden, auch und gerade die Systeme, die seit Jahren auf dem Markt sind. Fristerfassungstätigkeiten müssen so gestaltet sein, dass man sie nicht einfach unterbrechen, abbrechen oder vergessen kann. Noch besser: Intelligente Scansoftware für die Eingangspost, die den Absender automatisch erkennt, vielleicht sogar den Inhalt und dann dem Nutzer etwas vorschlägt und nachhakt, wenn nichts passiert – gibt es technisch alles, nur nicht bei Anwaltssoftware!
CML: Die höchstrichterliche Rechtsprechung umgeht bisher diesen Punkt, indem sie stets eine analoge Fristenkontrolle mittels Papierausdruck fordert. Spezifische Kriterien in Bezug auf die Softwaregestaltung wurden noch nicht aufgestellt. Die von Herrn Hartung genannten Punkte können jedoch dazu führen, die vom BGH beschriebenen „besonderen Fehlerquellen“ der digitalen Prozesse weitestgehend zu minimieren. Vorstellbar wäre etwa, dass Gerichtspost mit enthaltenen Fristen z. B. mittels OCR-Verfahren (Anm. d. Red.: OCR steht für Optical Character Recognition, zu Deutsch Optische Zeichenerkennung) automatisch eingelesen und im Sinne einer „Vor-Berechnung“ schon einmal im elektronischen Fristenkalender vermerkt wird. Im nächsten Schritt erfordert eine automatische Erinnerungsfunktion der Software zwingend einen Gegencheck der vorgeschlagenen Frist und die Freigabe im Kalender durch qualifiziertes Kanzleipersonal. Ein solcher Prozess würde die Gefahr einer Fristversäumnis stark minimieren. Hierbei lässt sich eine Parallele zum autonomen Fahren ziehen. Auch hier können auf lange Sicht viel fehleranfälligere hybride Verfahren nicht mehr zum (alleinigen) Maßstab erklärt werden.
Warum haben Hersteller von Anwaltssoftware noch nicht ausreichend auf die Rechtsprechung reagiert?
MH: Das müssen Sie die Hersteller fragen. Vermutlich finden die, dass man es gar nicht besser machen kann und der BGH ein bedauerliches anachronistisches Relikt vergangener Tage ist. Fairerweise muss man auch sagen, dass es hier um eine Software ging, deren Namen wir nicht kennen, weil sie in der Entscheidung pietätvoll mit „R.“ abgekürzt war. Allerdings hat der BGH hier den Stab über alle Hersteller gebrochen – dagegen richtet sich die Hauptkritik, siehe oben.
CML: Nach gegenwärtiger Rechtslage würde also letztlich sogar die innovativste und durchdachteste Software nicht den Anforderungen genügen, weil der BGH stets einen zusätzlichen Papierausdruck fordert.
Wie schätzen Sie das ein: Halten Anwaltskanzleien die Rechtslage in der Praxis ein oder macht jeder „sein eigenes Ding“?
MH: Schwer zu sagen. Ich vermute, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, Fristen so zu behandeln, dass sie einem nicht auf die Füße fallen.
CML: Meine Vermutung ist, dass die allermeisten „compliant“ sind. Die vollständig papierlose Kanzlei dürfte derzeit noch der Ausnahmefall sein.
Verstehen Sie die Argumentation des BGH, dass ein Medienbruch notwendig ist, um eine angemessene Fristenkontrolle zu gewährleisten?
MH: Das ist ja nun erst mal eine Behauptung ohne jede empirische Grundlage und ich weiß auch nicht, ob die BGH-Richter wirklich wissen, wie in Kanzleien gearbeitet wird. In dem entschiedenen Fall wäre ein Medienbruch sicher hilfreich gewesen. Ob das immer so gilt, bezweifele ich sehr.
CML: Das sehe ich ähnlich. Zumal es im Übrigen auch bereits psychologische Forschung gibt, wonach angesichts der Entwicklungen in der Bildschirmtechnologie Gedrucktes beim Korrekturlesen gegenüber Displays keinen Vorteil mehr hat.
Gibt es noch etwas, das Sie zum Schluss hinzufügen möchten?
CML: Es stellt sich noch die Frage, wie wir hier vorankommen. Eine Möglichkeit wäre, dass die Anwaltskammern – erforderlichenfalls mit Unterstützung einer kritischen Masse von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten – entsprechende Guidelines für Softwareanbieter entwickeln. Im Anschluss könnte eine normative Verankerung der Anforderungen im Berufsrecht für Rechtssicherheit sorgen.
Frau Dr. Leeb, Herr Hartung, ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch!
Was genau hat es mit dem BGH-Beschluss auf sich? Lesen Sie mehr dazu im Artikel „Der elektronische Fristenkalender: Erfährt die Digitalisierung der Anwaltskanzlei einen Showstopper durch BGH-Entscheidung?“ von Dr. Christina-Maria Leeb und Katherine Kitur.
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Dr. Christina-Maria Leeb ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Praxisgruppe IT, IP und Medienrecht, in München. Sie wurde als eine von 26 Frauen als „Woman of Legal Tech 2018“ ausgezeichnet. Ihre Dissertation mit dem Titel „Digitalisierung, Legal Technology und Innovation – Der maßgebliche Rechtsrahmen für und die Anforderungen an den Rechtsanwalt in der Informationstechnologiegesellschaft“ ist im Herbst 2019 im Verlag Duncker & Humblot erschienen.
www.christina-maria-leeb.de
Markus Hartung, Rechtsanwalt, Mediator und Geschäftsführer der Kanzlei Chevalier. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Marktentwicklung und Trends, Management, strategische Führung und Corporate Governance sowie Entwicklung von Geschäftsmodellen im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Rechtsmarktes.
www.markushartung.com