Legal Tech Juristenausbildung

Darum sollte Legal Tech dringend in die juristische Ausbildung integriert werden

Von Prof. Dr. Heribert Anzinger

Interview mit Prof. Dr. Heribert Anzinger zur Untersuchung von Legal Tech an deutschen juristischen Fakultäten

Legal Tech spielt in der deutschen Juristenausbildung kaum eine Rolle, wie eine Studie von Prof. Dr. Heribert Anzinger an der Universität Ulm ergab. Dies sollte sich laut dem Professor allerdings dringend ändern, schließlich werde jede Juristin bzw. jeder Jurist spätestens in der beruflichen Praxis mit dem Thema Legal Tech und Digitalisierung konfrontiert. Auch die Stellung im internationalen Wettbewerb könne darunter leiden.

Zu welchem Ergebnis kamen Sie kurz zusammengefasst in Ihrer Untersuchung der deutschsprachigen Jurafakultäten?

Prof. Dr. H. Anzinger: Der Fokus der Studie lag auf Legal Tech im Sinne von neuen Technologien zur Unterstützung und Automatisierung von Rechtsdienstleistungen, zur Streitbeilegung und zur Digitalisierung des Rechts. Nicht erfasst haben wir also Angebote, die sich auf das Recht der Digitalisierung bezogen, etwa auf den traditionellen Ge­bieten des Urheberrechts oder des IT-Rechts.

Danach fanden sich an fast allen deutschsprachigen juristischen Fakultäten außercurriculare Akti­vitäten zum Thema Legal Tech und Data Science im Recht. Vereinzelt waren sie auch Teil anrechen­barer Schlüsselqualifikation und Inhalt von Wahl­fach­angeboten. Einzelne Fakultäten haben zudem damit begonnen, Ergänzungs- und Weiterbildungs­studiengänge zu entwickeln. Aber an keiner juristischen Fakultät bildeten die sich rasant entwickeln­den Technologien einen festen Bestandteil des Pflichtprogramms. Mangels Examensrelevanz stellen die Angebote daher bislang nur einen rudimentären Randbereich der Ausbildung dar.

Im internationalen Vergleich liegt das Angebot damit noch nicht weit zurück. Aber die Dynamik ist besonders in Großbritannien, den USA, Kanada, Australien und auch in Frankeich und Italien groß. Der in Deutsch­land gesetzlich vorgegebene Pflichtstoffkatalog hindert die deutschen Fakultäten daran, ihre eigene Innovationskraft zu entfalten. Ein erhebliches Defizit sehen wir im Bereich der Daten­kompetenz. Über die Aufnahme quantitativer, statistische Methoden wird intensiv zu diskutieren sein. Ihre Bedeutung wächst sowohl in der Lebenswirklichkeit als auch in verschiedenen Anwen­dungen zur Sachverhaltsermittlung und zur Rechtsfindung. Alle Juristinnen und Juristen sollten die Stärken und besonders auch die Schwächen dieser Methoden im Studium vermittelt erhalten.

Warum, denken Sie, spielen Digitalisierung und Legal Tech im Jurastudium bisher nur eine so kleine Rolle – gerade auch im Vergleich zu anderen Nationen?

Prof. Dr. H. Anzinger: Diese Frage ist erst kürzlich wieder auf einer internationalen Konferenz in Wien intensiv diskutiert worden. Der wesentliche Grund besteht in Deutschland in der starken gesetzlichen Regulierung der Studien- und Prüfungsinhalte. Dort sind Legal Tech und die damit zu verbindenden Methoden kein Pflichtbestandteil. Der Umfang der Schwerpunktbereiche, die eine Aufnahme ermöglichen würden, wird in den jüngsten Reformvorschlägen sogar verringert. Im Rechtsreferendariat fehlt es an vielen Stellen an Ausbildungskapazität. Dort überwiegt ein kurzfristiges Interesse, Nachwuchs für die Justiz nach dem aktuellen Anforderungsprofil auszubilden. Gleichzeitig mehren sich aber gerade in der Justiz die Klagen, dass die Digitalisierung im Recht so langsam vorankommt.

Ein weiteres Problem lässt sich mit der Frage verbinden, wer die neuen Methoden unterrichten soll. Im Ausland, zu nennen sind wiederum zuerst Großbritannien und die USA, sind die Curricula offener und es erscheinen zum einen die Fächergrenzen durchlässiger, insbe­son­dere zur Informatik und zu den Wirtschaftswissenschaften und zum anderen sind der Einfluss und die finanzielle Unterstützung aus der Praxis größer. Das muss man nicht alles auf Deutschland übertragen wollen, aber eine Öffnung zu anderen Disziplinen wäre hilfreich.

Warum ist es so wichtig, das Thema Legal Tech nicht zu vernachlässigen?

Prof. Dr. H. Anzinger: Aus meiner Sicht sind es im Wesentlichen drei Punkte, die dafür sprechen, sich dringend mit der Integration von Legal Tech in die juristische Ausbildung im Studium und im Referendariat zu befas­sen. Zum einen werden diese Technologien bereits entwickelt und schon heute auch in Deutschland eingesetzt.

Juristinnen und Juristen werden also selbst dann mit ihnen konfrontiert werden, wenn sie sie selbst nicht einsetzen wollen. Deshalb muss jede Juristin und jeder Jurist die Schwächen dieser Systeme kennen, um ihnen kritisch begegnen zu können.

Weiter wird die Lebenswirklichkeit immer stärker von digitalen Formaten und Methoden geprägt. Teil dieser Prägung sind auch statistische Methoden, oft werden sie künstliche Intelligenz genannt, oder Anwendungen der Blockchain-Technologien. Juristinnen und Juristen müssen mit dieser Entwicklung der Lebenswirklichkeit umgehen können.

Und schließlich, das ist ein wichtiger Punkt, dürfen wir nicht verdrängen, dass Juristinnen und Juristen mit dem jeweiligen Heimatrecht in einem immer stärkeren internationalen Wettbewerb stehen. Wo die Grenzen zwi­schen Staaten und ihren Rechtssystemen immer mehr an Bedeutung verlieren, werden sich Techn­o­logien, mit denen sich Rechtsdienstleistungen und Streitbeilegung günstiger anbieten lassen, auch in den Rechtsordnungen durchsetzen, für die sie nicht entwickelt worden sind. Das Recht wird der Tech­no­logie schlicht folgen. Juristische Fakultäten und auch regulierte Ausbildungsstandorte, die ihre Studierenden nicht auf diese Entwicklungen vorbereiten, könnten im internationalen Wettbewerb an Bedeutung verlieren.

Welche Bereiche von Legal Tech sind Ihrer Meinung nach von besonders zentraler Bedeutung für die Arbeit von Juristinnen und Juristen?

Prof. Dr. H. Anzinger: Eine Vielzahl der derzeit angebotenen Legal Tech-Anwendungen lassen sich für Juristinnen und Juris­ten in der Praxis erlernen. Aber es gibt drei Bereiche, in denen dieses Learning-by-doing nicht so einfach ist und die deshalb in die Ausbildung integriert werden sollten. Das sind zuerst die statis­tischen Methoden, die zum Beispiel zur Vorhersage juristischer Entscheidungen oder zur Entwicklung von fallorientierten Expertensystemen genutzt werden.

Die Rechtswissenschaft ist keine empirische Wissenschaft und sie soll es auch nicht werden. Aber wenn Systeme auf den Markt kommen, die Rechtsrat auf der Basis statistischer Methoden anbieten – dazu zählen fallorientierte Expertensysteme oder trainierte Legal Chatbots –, dann müssen Juristin­­­nen und Juristen das verstehen können. Und es besteht große Einigkeit darin, dass diese Metho­den in zukünftigen Legal Tech-Anwendungen enorme Verbreitung finden werden. Der zweite Bereich sind Blockchain-Technologien und mit ihnen auch Grundprinzipien der Verschlüsselung und der Programmierung. Nicht jeder Jurist und jede Juristin muss programmieren können, aber alle sollten die Grundprinzipien verstehen. Schließlich sollte in aufgewerteten Veranstaltungen zur Rechtstheorie wieder mehr Methodenbewusstsein bei Juristinnen und Juristen entwickelt werden. Das würde den Weg in viele Legal Tech-Anwendungen erleichtern und zugleich gewährleisten, dass Recht, Werte und die durch diese zu verwirklichende Gerechtigkeit nicht auf der Strecke bleiben.

Wie sollten Volljuristinnen und -juristen, die während ihres Studiums keine Berührungspunkte mit dem Thema Legal Tech hatten, an das Thema rangehen?

Prof. Dr. H. Anzinger: Unsere Studie hat zusammengetragen, welche Vielfalt an kleinen außercurricularen Einführungsange­boten an den Universitäten bereits bestehen. Diese Angebote sind in der Regel auch für eine breite Fachöffentlichkeit zugänglich. Sie sind ein niederschwelliger und meist auch kostenloser Einstieg, der helfen kann, sich zu orientieren. Orien­tierung bieten auch Marktüberblicke, Messen und Beiträge in den einschlägigen Fachzeit­schriften. Weiter entstehen an den Universitäten erste Weiterbildungs­angebote und Aufbau­studiengänge. Die Universitäten sollten solche Angebote noch stärker fördern und umgekehrt sollte die Praxis sie auch annehmen.

Berührungsängste sollte keine Juristin und kein Jurist haben. Viele der neuen Techno­logien sind schnell entzaubert, wenn sie verstanden worden sind und andere helfen tatsächlich bei der tägli­chen Arbeit. Manche ermöglichen erst den Zugang zum Recht.

Lesen Sie auch „Juristenausbildung in Zeiten der Digitalisierung: Müssen Anwälte der Zukunft programmieren können?“ von Prof. Dr. Heribert Anzinger.

Foto: Adobe.Stock/© kasto

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Prof. Dr. Heribert M. Anzinger ist Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Steuerrecht im Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung der Universität Ulm. Er ist an einem Promotionskolleg "Digitales Recht" an der Universität Heidelberg beteiligt und forscht über Automatisierung der Rechtsfindung (Computational Methods in Law), selbstvollziehende Verträge (Smart Contracts) und Rechtsfragen bei Blockchain-Anwendungen. Daneben liegen seine Forschungs-schwerpunkte im Zivil-, Gesellschafts-, Kapitalmarkt- und Steuerrecht.

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