In vielen Kanzleien herrscht Hochbetrieb: Mandaten oder Mandantinnen, die Druck machen, Fristen, Fachkräftemangel – der Alltag lässt wenig Raum für strategische Themen. Die Digitalisierung wird zwar oft als wichtig, aber nicht dringend eingestuft. Viele Kanzleileitungen verschieben die Beschäftigung mit digitalen Prozessen auf einen unbestimmten Zeitpunkt: „Wenn wir mehr Zeit haben“, „Wenn das Team stabiler ist“, „Wenn das große Mandat abgeschlossen ist“. Doch dieser Moment kommt selten – und wer auf ihn wartet, gerät ins Hintertreffen.
Mit diesem Artikel plädiere ich für ein neues Verständnis von Digitalisierung: als kontinuierlicher Entwicklungsprozess, der nicht auf einen perfekten Startschuss wartet, sondern in die unternehmerische Führung eingebettet wird. Es geht nicht darum, ob, sondern wie Kanzleien Digitalisierung aktiv und nachhaltig gestalten.
Der Mythos vom perfekten Moment
Der Wunsch, zunächst Stabilität herzustellen, bevor weitere Veränderungen umgesetzt werden ist nachvollziehbar – gerade im juristischen Umfeld, das auf Verlässlichkeit und Präzision beruht. Doch in einem dynamischen Marktumfeld droht das Festhalten am „richtigen Zeitpunkt“ zur strategischen Falle zu werden.
Digitalisierung ist kein abgeschlossenes Projekt mit festem Anfang und Ende. Sie ist ein anhaltender Wandel, der sich über Jahre hinweg entfaltet – in Etappen, durchaus auch mal mit Rückschritten, aber insgesamt mit spürbaren Fortschritten.
Häufige Denkfallen in Kanzleien lauten:
- „Wir brauchen erst ein Konzept.“ – Die Konzeptidee reicht, die Konkretisierung entsteht im Tun.
- „Dafür fehlt uns gerade die Zeit.“ – Richtig. Zeit haben Sie nicht, Zeit müssen Sie sich nehmen. Jedoch gewinnen Sie Zeit durch effizientere Prozesse.
- „Unsere Mitarbeitenden sind nicht bereit.“ – Machen Sie sich das Prinzip zunutze, Betroffen zu Beteiligte zu machen, denn das schafft Bereitschaft.
Das eigentliche Hindernis ist selten die Technik – es ist die fehlende Klarheit darüber, wie die Kultur der Veränderungsfähigkeit in die Kanzlei integriert werden kann.
Digitalisierung als unternehmerischer Reifeprozess
Digitalisierung ist keine technische Aufgabe, sondern eine Führungsentscheidung. Sie verlangt eine Haltung, die Veränderung nicht als Störung, sondern als unternehmerische Verantwortung versteht.
Wenn Sie Ihre Kanzlei strategisch führen wollen, ist es notwendig, sich und das Team durch Übergangsphasen zu leiten – mit Orientierung, Kommunikation und Entscheidungskraft. Es geht darum, Ihre Kanzlei als lernende Organisation zu begreifen.
Dazu gehört:
- Selbstführung: Die Bereitschaft, mit Unsicherheit umzugehen und dennoch klare Schritte einzuleiten.
- Fokus auf Entwicklung statt Perfektion: Nicht jedes Detail muss von Anfang an gelöst sein – entscheidend ist das Dranbleiben.
- Veränderungskultur fördern: Eine Kanzlei, die Wandel als Normalität begreift, entwickelt Resilienz und Innovationskraft.
Ein digitaler Reifeprozess umfasst nicht nur neue Tools, sondern vor allem auch neue Routinen, veränderte Rollen und ein wachsendes unternehmerisches Mindset.
Strategische Prinzipien für den digitalen Entwicklungsprozess
Damit Digitalisierung gelingen kann, braucht Sie klare Prinzipien statt pauschaler Empfehlungen. Die folgenden fünf Grundsätze haben sich in der Praxis bewährt:
1. Vom Großen ins Konkrete
Beginnen Sie mit einem Zielbild: Wie soll Ihre Kanzlei in zwei bis drei Jahren aufgestellt sein? Welche Rolle spielen digitale Prozesse dabei? Von dieser Vision aus lassen sich konkrete, messbare Entwicklungsschritte ableiten und priorisieren.
2. Fokussiert statt überfordert
Wählen Sie gezielt einen Hebel mit spürbarem Effekt – etwa die Optimierung des Mandatsaufnahmeprozesses oder die Einführung eines digitalen Fristenmanagements. Kleine Schritte mit großer Wirkung bauen Vertrauen auf und schaffen Entlastung.
3. Beteiligung statt Widerstand
Binden Sie Ihr Team frühzeitig ein. Digitalisierung gelingt nicht im Alleingang. Wenn Mitarbeitende die Ziele verstehen, ihre Perspektiven persönlichen einbringen und mitgestalten können, steigt die Akzeptanz erheblich.
4. Prozesse im Fokus
Technologie entfaltet ihren Wert erst im Zusammenspiel mit klaren Prozessen. Analysieren und dokumentieren Sie zunächst Ihre vorhandenen Abläufe und digitalisiert Sie sie im Anschluss. Das spart Zeit und erhöht die Qualität. Digitalisierung ist kein Selbstzweck – sie muss den Kanzleialltag konkret verbessern.
5. Iteration statt Perfektion
Warten Sie nicht auf die „ideale Lösung“. Starten Sie mit einem Piloten, testen Sie diesen im Alltag, reflektieren Sie die Ergebnisse mit Ihrem Team und entwickeln Sie ihn weiter. Dieser agile Ansatz reduziert Umsetzungsbarrieren und stärkt die Handlungsfähigkeit.
Rollenklärung: Wer führt den Wandel?
Ein häufiger Fehler: Digitalisierung wird delegiert – an die IT, an Fachkräfte oder externe Anbieter. Machen Sie diesen Fehler nicht, denn wer nicht selbst steuert, verliert die strategische Kontrolle. Digitalisierung ist Chefsache.
Ihre Rolle als Kanzleileitung ist es, den Rahmen zu setzen:
- Prioritäten definieren
- Entscheidungen treffen
- Ressourcen bereitstellen
- Kommunikativ begleiten
Gleichzeitig kann eine externe Begleitung – durch spezialisierte Coaches, Prozessberater oder -beraterinnen sowie Change-Experten – helfen, blinde Flecken aufzudecken, interne Ressourcen zu entlasten, neue Perspektiven einzubringen und den Prozess zuverlässig voranzubringen.
Und ein besonderer Clou: Es gibt passende Förderprogramme dafür, wie zum Beispiel das INQA-Coaching.
Fazit: Digitalisierung beginnt mit Haltung, nicht mit Tools
Warten Sie nicht auf den perfekten Zeitpunkt, sonst verpassen Sie die Chance zur Gestaltung. Digitalisierung ist ein unternehmerischer Reifeprozess, der klare Führung, strategisches Denken und kontinuierliches Dranbleiben erfordert.
Sie brauchen keine radikalen Umbrüche – sondern den Mut, jetzt den nächsten sinnvollen Schritt zu gehen. Nicht alles auf einmal, aber systematisch. Nicht perfekt, aber wirksam.
Die zentrale Frage lautet nicht: Haben wir Zeit für Digitalisierung?
Sondern: Welche Entwicklung braucht unsere Kanzlei – und was ist unser nächster Schritt?
Bild: Adobe Stock/©Nuthawut
Marloes Göke ist Expertin für selbstbestimmtes Unternehmertum. Als Unternehmensberaterin mit betriebswirtschaftlichem und psychologischem Studium unterstützt sie inhabergeführte Unternehmen und Selbständige dabei, sich stärker zu professionalisieren — mit dem Ziel, ein selbstbestimmtes und erfolgreiches Unternehmen und Privatleben zu führen. Zu ihren Klienten gehören Steuer- und Anwaltskanzleien deutschlandweit. Ihr Buch „Selbstständigkeit ohne Selbstaufgabe“ ist im Haufe Verlag erschienen.