Keine Frage: Die Digitalisierung von Prozessen ist mit Legal Tech auch unter Juristen auf dem Vormarsch. Wen betrifft diese Entwicklung: alle, einige, mich nicht, aber die anderen?
Was auch immer der Treiber dahinter sein mag – Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz oder Einhaltung gesetzlicher Vorschriften – es ist ein bisschen wie bei neuen Smartphones: Es gibt First-Mover, es gibt Zögerer und es gibt Verweigerer. Und allen stellt sich die Frage: Passt das zu mir, brauche ich das wirklich, komme ich überhaupt damit klar? Wie geht man den Digitalisierungsprozess sinnvoll an?
„The end of lawyers as we know them“ postulieren manche Auguren. Der Wechsel zu komplett neuen Geschäftsmodellen wird empfohlen. Der Jurastudent möge in seiner Ausbildung den Fokus auf digitale Technik richten, um später nicht als Anwalt, sondern als Legal Innovator zu brillieren. Denn dann wird er es bestens verstehen, seinen virtuellen Assistenten auf die gewünschten Tätigkeiten zu programmieren und sich briefen zu lassen, nachdem dieser vorbereitend jegliche Legal Opinion, alle Gerichtsurteile und sämtliche Gesetze „verinnerlicht“ hat.
To be or not to be – oder worum geht es?
KI, Robotic Process Automation, Smart Agents, Blockchain – sind das Techniken, welche die Branche revolutionieren werden? Oder ist es ein Marketing-Hype, der in Form des Legal Tech-Phantoms eine Branche vor sich hertreibt?
Vielleicht – und da kann man durchaus kontroverser Meinung sein – haben Kanzleien und ihre Inhaber für sich erkannt, dass Technologie eine fundamentale Rolle bei der Bereitstellung hochwertiger Rechtsberatung und verwandter Dienstleistungen spielt, mit einem echtem Mehrwert für die Mandantschaft. Und mit einem Mehrwert auf der Einnahmenseite.
Der neueste Bericht aus der Reihe „Legal IT Landscapes“ der britischen Online-Publikation „Briefing“ macht unmissverständlich klar, dass wir an einem Wendepunkt sind. Wer hätte sich vor 25 Jahren vorstellen können, dass führende MagicCircle-Law-Firms Programmierkurse für ihre Anwälte anbieten? „Ich bin seit 25 Jahren in der Rechtsbranche und habe die Einführung vieler neuer Technologien miterlebt, die schon einmal enorme Auswirkungen auf die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs und die Erbringung damit verbundener Dienstleistungen hatten“, so formuliert es Jason Petrucci, CEO des Informations-Management Spezialisten Phoenix Business Solutions.
Was so revolutionär scheint, ist in Wahrheit die Annäherung verschiedener Disziplinen. Der Antrieb dahinter: so viel Mehrwert wie möglich aus den vorhandenen Daten herauszuholen. Das an sich ist nichts Neues, das kennt man, seit es den Begriff Big Data gibt. Nur dass hier eindeutig mehr Raffinesse gefordert ist, denn die Zusammenhänge sind wesentlich komplexer.
Deshalb sind Technologien wie KI und Blockchain für Legal Tech so fundamental wichtig. Sie sind Dreh- und Angelpunkt für die zukünftige Fähigkeit von Organisationen, Informationen als Daten zu verarbeiten, zu interpretieren und zu analysieren. Und sollten deshalb in Kanzleien auf Partnerebene oder in der Vorstandsetage von Unternehmen ganz oben auf der Agenda stehen – wenn sie es nicht schon tun.
Definieren Sie Ihren Prozess, bevor Sie ihn digitalisieren
Also Technologie um der Technologie willen? Gibt es da nicht noch einiges mehr, das bei der Aufrüstung auf Legal Tech berücksichtigt werden sollte? Lässt sich die Technologie einfach wie eine Käseglocke über eine Anwaltskanzlei stülpen und dann wird alles gut? Oder noch besser?
„Wenn Sie einen Sch…prozess digitalisieren, dann haben Sie einen sch … digitalen Prozess,“ so deutlich hat es Thorsten Dirks gesagt, ehemals CEO der Telefónica Deutschland AG. Was so provokant klingt, trifft es im Kern: Zunächst gilt es, den Prozess mit Blick auf die Technik zu optimieren – oder gar erst einmal zu definieren, bevor man mit der Digitalisierung beginnt.
Ist das am Ende gar die Tech-Leistung, zu der „moderne“ Anwälte in der Lage sein müssen? Liegt hier der Schlüssel zum Erfolg von und mit Legal Tech? In der Prozessanalyse, in der Aufdröselung des Business-Case, um dann gemeinsam mit Beratungsunternehmen für Legal Tech das „Stück Legal Tech-Software“ zu finden, das den Prozess oder den Business-Case am besten abbildet und unterstützt?
„Vorrangige Aufgabe einer Organisation wird sein, zu unterscheiden, ob das, was im Markt angeboten wird, sowohl technologisch als auch prozessual, für die jeweiligen Aufgaben überhaupt taugt“, sagt Christiane Müller-Haye, Director Continental Europe bei Phoenix Business Solutions.
Zurück auf null: Prozess aufdröseln und hinterfragen
In der Konsequenz heißt das: Wer keine Prozesse definiert hat oder sie nicht regelmäßig aktualisiert, braucht erst gar nicht mit Legal Tech anzufangen. Das klingt dramatisch, ist aber Fakt: Was in anderen professionellen Dienstleistungsberufen eine Selbstverständlichkeit ist, wird von der rechtsberatenden Gilde eher stiefmütterlich bis gar nicht behandelt. Das wird man sich jedoch in Zukunft nicht mehr leisten können.
Also Schluss damit, und wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang. Wer schlau ist, macht die Aufarbeitung von liegengebliebenem „Continual Service Improvement (CSI)“ zur Grundlage für die verstärke Nutzung von Legal Tech in seiner Organisation. Mit Blick auf diesen Veränderungsprozess sollte man folgende Fragen beantworten:
- Wer sind die Schlüsselpersonen des Prozesses?
- Wer stellt die Brücke zwischen IT und Business dar?
- Wer „verkauft“ den Mehrwert an den Partner, der in den Dekaden seiner beruflichen Laufbahn auch ohne Legal Tech erfolgreich war?
- Gibt es schon den Legal Tech-Versteher in meiner Organisation?
- Wer kann noch zwischen den unzähligen Legal Tech-Applikationen unterscheiden? Geschweige denn die Wahl treffen?
Die Fragen lassen unschwer erkennen, dass hier möglicherweise ein neues Berufsbild entsteht, das des Chief Legal Tech Officers. Und ein neues Betätigungsfeld für Beratungsunternehmen.
Fazit: Durch Legal Tech kommen sich Juristen und Informatik näher
Die Zukunft bringt also nicht das Ende des Berufsbildes des Rechtsanwalts, sondern es wird Annäherungen zwischen Jurisprudenz und Informatik geben; es wird eine symbiotische Beziehung entstehen, die Organisationen befähigt, das Beste aus ihren Daten, ihren Anwälten und ihrer Technologie zu machen.
„Das ist es, was ‚Legal‘ zu leisten hat, damit ‚Tech‘ zum Tragen kommt. Ansonsten ist die Investition in einen Betriebsausflug auf die Bahamas sicher lohnenswerter und motivierender für alle Beteiligten, die danach wie gewohnt weitermachen. Oder?“, so Christiane Müller-Haye von Phoenix Business Solutions.
Foto: Fotolia/Olivier Le Moal
Christiane Müller-Haye, ist Director Continental Europe bei Phoenix Business Solutions, einem weltweit tätigen Unternehmen, welches Organisation zum weitumfassenden Thema Information Management berät und bei der Einführung von Lösungen unterstützt. Sie begleitet die Entwicklung von Legal IT seit dem Jahr 2000, beginnend im IT-Bereich einer großen deutschen Wirtschafts-rechtskanzlei. Dort hat sie die ersten Schritte der Digitalisierung begleitet. Seit 2007 ist sie auf der Beraterseite und unterstützt Kanzleien, Rechts-abteilungen und andere Professional Service Firmen bei der Einführung des Dokumenten- und E-Mail Management Systems iManage Work. Ihre Spezialgebiete sind Wissensmanagement und die Nutzung von künstlicher Intelligenz zur Unterstützung der juristischen Arbeit.
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